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  • Caroline Winning

Angst und Liebe in Zeiten von Corona

Harald Welzer sprach kürzlich von "alarmierter Kommunikation", was sehr treffend beschreibt, wie es derzeit bei uns im Lande zugeht.

Wir haben ein Höchstmaß an Verurteilung, Diffamierung, Beschuldigung, Beleidigung, Verachtung, Abwertung, Verleugnung, Hetze und Ausgrenzung erreicht, dass ich schlicht von Unkultur spreche, wenn es um unseren Umgang miteinander geht.

Wir haben eine Schnelligkeit und Radikalität in unseren Auseinandersetzungen angenommen, dass vieles von dem, was eine Gesellschaft zusammenhält, auf der Strecke bleibt. Interessiertes Zuhören, wertschätzendes Nachfragen, respektvoller Ausdruck, offenherziges Einladen und gegenseitige Toleranz sind Tugenden und Praktiken, die ich derzeit schmerzhaft vermisse, wenn ich öffentliche Gespräche verfolge. Egal, ob bei ranghohen Politiker:innen, in Chatverläufen oder den Schlagzeilen gängiger Tagesblätter, viele sind in den Wettkampf um das lauteste Geplärr eingestiegen.

Diese reflexhafte, angestrengte, mit dem Finger auf Andere zeigende Kommunikationsunkultur schmerzt nicht nur, sie lässt uns als Gesellschaft innerlich roh werden. Wer Kategorisierung und Abwertung betreibt, verliert die Fähigkeit, Grautöne zu sehen und den tieferen Grund für den kollektiven Alarm zu übersehen.

Einer, den ich an mir selbst wahrnehmen kann, ist die Angst. Wenn ich Zitate lese wie "Am Ende des Winters ist man entweder geimpft, genesen oder gestorben", erlebe ich, wie es in drin mir eng wird und den Brustkorb zuschnürt. Angst vor Krankheit und Sterben treibt derzeit viele von uns um in Anbetracht eines Virus, der zu todbringenden Verläufen führen kann.

Dazu gesellen sich ein Bündel weiterer Ängste: die Angst, den Job und damit die finanzielle Existenz zu verlieren. Gewalt zu erfahren, psychisch verletzt zu werden, ausgebrannt zu werden. Die Angst, nicht mehr dazu zu gehören und inmitten von Beschränkungen und Begrenzungen wie ein Tiger im Käfig zu enden. Die Angst, Bevormundung zu erfahren, Fehler zu machen und die bisherigen Eckpfeiler im Leben wie Freunde, Status oder Familie bröckeln zu sehen. Das Bündel an Ängsten ist vielfältig und erzeugt ein enormes Spannungsfeld, dessen Ausmaß wir an der Art der derzeitigen Auseinandersetzungen sicht- und spürbar erleben.


Ich war kürzlich in einem von Christl Lieben geleiteten Seminar mit dem Titel "Angst und Liebe". Sie berichtete uns davon, wie sie zu diesem Titel gekommen sei: eines Nachts lag sie geschüttelt von Angst wach, ihr Herz hatte angefangen wild zu rasen. Da sie bereits einen Herzinfarkt hinter sich hatte, fand sie sich in einer existentiellen, lebensbedrohlichen Panik wieder. Inmitten ihres Geschütteltseins besann sie sich und begab sich innerlich zum dunkelsten Punkt ihrer Angst - und sprach mit ihr: Ich sehe dich, du bist da und willst mir etwas sagen. Ich höre dir zu, ich weiche nicht aus. In diesem Moment, so erzählte sie, wichen die Panik und die Angst. An ihre Stelle trat ein tiefer Frieden, ein heiliges Gefühl vollkommener Geborgenheit und Stille. An diesem Punkt begegnete sie der Liebe als Ausdruck einer allgegenwärtigen Kraft, die uns alle trägt.

Es mag schwer fallen, inmitten des derzeitigen Hurrikans die metaphysische Einheit zu beschwören, sich von der Sorge, dem Frust, der Enge zu lösen und in ein Feld von Weite und Frieden einzutauchen. Mir gelingt es nur vereinzelt, wenn ich mich in Meditation versenke oder dem Lachen eines Kindes lausche.

Gesellschaftlich stehen wir vor ebenjener Herausforderung, die Transformation von Angst in Liebe zuzulassen. In Räumen, wo wir uns wieder als Menschen sehen, in Begegnungen, wo wir einander mehr zuhören als be-sprechen, mehr fragen als wissen. Wo wir erkennen, was die Angst mit uns macht, tief drinnen in unserer Seele und ihr nicht erlauben, die Kontrolle über uns zu übernehmen.


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