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Gegensätze zwischen Grau und Glanz: Berlin als Spiegel unserer Zeit

  • Autorenbild: Caroline Winning
    Caroline Winning
  • vor 6 Tagen
  • 3 Min. Lesezeit

Berlin ist für mich der Ort, an dem es alles gibt – arm, reich, rotzig, edel, hektisch, lüstern, grell und still. Die Stadt öffnet seit jeher ihre Arme für die Pracht und Vielfalt des chaotischen Lebens. Spätestens bei der Einfahrt mit dem Zug umarmt mich die Seele Berlins, und ich lande wieder dort, wo ich mich am wohlsten fühle: mitten im prallen Dasein – mit all seinen lichtvollen wie düsteren Facetten.


Vielleicht ist Berlin deshalb im November so besonders grau: Alles mischt sich zu einem einheitlichen, alles verschluckenden Brei.

Die Stadt steht damit sinnbildlich für eine der aufreibendsten Herausforderungen unserer Zeit: die Frage, wie wir mit dem bunten Meinungsspektrum von links über quer bis mittig-rechts so umgehen können, dass alles seinen Platz bekommt – ohne dabei unsere demokratische Lebensgrundlage zu gefährden.

Oft sind Diskurse von reflexhaften Reaktionen geprägt. Ob es um rechte, nationalistische Inhalte geht, um den leisen Hauch von Kontaktschuld oder um Verschwörungstheorien – herbeifantasiert oder wahrheitsnah –, meist reicht ein Funke, um das Pulverfass zur Explosion zu bringen. Jedenfalls gilt: Wir nehmen die Sache furchtbar ernst.

Ich erlebe Diskussionen darüber, welche Zeitung man noch lesen darf, welchen Stimmen man zuhören darf und welchen man besser ein Sprechverbot erteilen sollte. Kaum wird gemunkelt, dass Querdenker anwesend sein könnten, schwappt die Entrüstungswelle über – begleitet von Ratlosigkeit. Was tun? Kontakt abbrechen? Positionierung einfordern? Den Verdacht ignorieren? Ein klares Statement abgeben?

Die gesellschaftliche Empörung ist groß – spürbar im Einzelgespräch ebenso wie im kollektiven Shitstorm.

Das eigene Ich will sich klar abgrenzen – und als soziales Wesen keinesfalls zu den Ausgestoßenen gehören. Mainstreamkonforme Selbstbestätigung sitzt am Hebel und sorgt dafür, dass die Zugehörigkeit zur „richtigen“ Anschauung belohnt wird. In unserer undurchsichtigen Welt ist es wieder en vogue geworden, zwischen falsch und richtig zu unterscheiden. Je eindeutiger, desto schmerzfreier.

Diese Dynamiken sind nicht neu. In Zeiten von Unvorhersehbarkeit, medialer Dauerkrise und wachsender Angst nimmt das reflektierte, differenzierte Denken oft ab – während Emotionen uns vor sich hertreiben. Das brennende Herz im Dschungel der Unsicherheiten will gelöscht werden – lieber sofort, als der Angst der Unvereinbarkeit standzuhalten.

Denn: die Dinge sind manchmal unvereinbar.

Wenn wir jedoch nur noch versuchen, Unvereinbares zu versöhnen, zerbrechen wir an der Illusion von Einheit. Das Verschiedene im Gemeinsamen zeigt sich immer deutlicher auf unserem Erdball. Und wir sind aufgefordert, diese Spanne auszuhalten – bis zum Zerbersten. Um zu erfahren, dass die frühere Enge des Lebens einer zukünftigen Weite Platz macht. Einer Weite, die unseren Geist in neue Gefilde katapultiert. Einer Weite, die Raum schafft für ein neues Ich: eines, das intensiver fühlt, weiter denkt und mehr Unterschiedlichkeit aushalten kann. Um Lösungen zu entwickeln, die einer diversen Gesellschaft wirklich gerecht werden.

Dazu braucht es schon heute inneren Raum – einen Ort in uns, von dem aus wir den Menschen sehen können, ohne uns in seinem Verhalten zu verstricken. Wir brauchen die Fähigkeit, Grautöne zu erkennen, anstatt uns vom grellen Schwarz-Weiß blenden zu lassen. Wir brauchen Mut zur Entschiedenheit, wenn Leben in Gefahr ist. Und wir brauchen Kraft, um den Sturm im Wasserglas auszuhalten, wenn er über uns schwappt.


Das alles ist leicht gesagt. Doch seien wir gewiss: Unser Herz kann die Wucht der Unterschiedlichkeit halten – wenn wir der Verschiedenheit mit Liebe begegnen, nicht mit Konzepten. Fangen wir bei uns selbst an: Welchen inneren Anteil will ich partout nicht wahrhaben? Was in mir darf nicht sein? Denn Lagerdenken im eigenen Innern hat schon immer die größte Grausamkeit hervorgebracht.

Berlin ist ein guter Ort, sich dem zu stellen. Von der Neuköllner Hure bis zur Zehlendorfer Dekadenz ist alles dabei, was der Mensch hervorbringen kann. Viel Spaß beim Stadtbummel!


 
 
 

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