Tun oder Sein? Im Leben in Balance bleiben
Das Männliche und das Weibliche, zwei Qualitäten, die sich seit jeher in uns vereinen. Alle Dinge, alle Personen enthalten in sich die zwei Elemente oder Prinzipien. Jedes männliche Wesen enthält auch das weibliche Element; jedes weibliche Wesen enthält auch das männliche Prinzip. Sie drücken die beiden Pole dieser Welt aus zwischen denen wir uns ein Leben lang bewegen. Ähnlich wie Yin & Yang, Sonne und Mond, Tag & Nacht stehen sie für Gegensätze, die im Grunde zwei Gesichter einer Einheit sind. Es gilt jeweils beide zu würdigen, zu leben und ihre jeweiligen Qualitäten wirksam in unser Leben zu integrieren, sprich die Balance zu finden, wie mit so allem im Leben.
Im Moment zieht ein stechender Schmerz durch meine linke Körperhälfte. Kein neues Phänomen, sondern eines, welches mich schon einige Zeit begleitet. Meine linke Seite ist mir zum Seismograph für Übertriebenheit im Tun geworden. Wenn ich mal wieder arg im Machen, Planen, Ausführen, Verstehen und Herumrennen bin, wird der Schmerz größer bis irgendwann die Erkenntnis einsetzt: ich bin zu einseitig unterwegs. Was mir abhanden gekommen sind, sind Aspekte und Qualitäten, die stärker dem Weiblichen zugeordnet werden und für Sein statt Tun, für das Spüren, Verbinden, Netzwerke schaffen, das Annehmen und Empfangen, das eher Zarte, weniger Sichtbare stehen. Amorphes Wirken, formloses Wirken statt solches, das auf greifbare, deutliche Resultate aus ist.
Wo handfeste Ergebnisse im Vordergrund stehen, setzt das Weibliche die eher subtile Arbeit in seinen Fokus - das, was auf den ersten Blick schwer zu greifen geschweige denn zu messen ist. Das kann bedeuten, einfach nur zuzuhören und alle Analysen und Diagnosen fallen zu lassen. Es kann heißen, für eine wohlige Atmosphäre zu sorgen oder zu spüren, wann die Stimmung kippt. Das weibliche Prinzip vermag es, dem bloßen So-Sein seine Wertigkeit anzuerkennen. Die Dinge sich frei entfalten zu lassen ohne ihnen eine Struktur oder Form, einen Rang oder Titel zu geben.
Die Frage ist weniger „Was kann ich tun?“ als vielmehr
„Wie kann ich geschehen lassen, so dass entsteht, was entstehen will?“ Ich erlebe mich selbst immer wieder viel mehr im Tun als im Sein. Mir fällt auf, wie schwer es mir des Öfteren noch fällt, Komplimente oder Bestärkungen anzunehmen im Sinne des Empfangens. Einem Teil von mir ist es unangenehm Anerkennung zu erhalten, so sehr gründet mein Selbstwert auf Tätigsein, dem gebenden Part in mir. Wie Ratschläge echte Lösungen verhindern Die Balance zwischen Geben und Nehmen ist der Gradseilakt, den ich derzeit wacklig gehe. Ich ertappe mich dabei, wie gern ich anderen zur Seite stehe, ihnen den entscheidenen Tipp geben mag, meinen Rat oder meine Hilfe anbiete anstatt mich einfach nur mit ihnen in dem Moment zu befinden, der sie gerade bewegt. Es fällt um so ein Vielfaches leichter zu wissen, zu verstehen und zu agieren als die Dinge anzunehmen und zu lassen wie sie sind. Mit der Frage im Kopf, welche Hilfe wirklich hilft, erkenne ich langsam: ich kann nicht wissen, welcher Rat in dieser Situation wirklich zu den Lebensumständen meines Gegenübers passt. Wie kann ich daher behaupten, ihnen um eine Antwort überlegen zu sein? Dennoch kann ich oft nicht raus aus meiner Haut, das einst Gelernte sitzt noch tief und flüstert immer wieder: wenn du keine Lösung parat hast, bist du nicht gebraucht.
Es macht mich zudem angreifbarer, verletzlicher, nur mit dem anderen zu sein, ihm zuzuhören und meine ungeteilte Aufmerksamkeit zu widmen. Hier ist die Angst größer, mich dem Vorwurf auszusetzen, nicht wertvoll genug in meiner Unterstützung zu sein. Schwimmen mir so die Felle davon, weil ich doch so wenig Konkretes - in Methode und Ergebnis - vorzuweisen habe, wenn ich einfach nur da bin? Da bin als Vertraute, als Resonanzboden, als Katalysator innerer Erkenntnisprozesse. Dabei sind Empathie, Mitgefühl und reine Präsenz oftmals die Dinge, die eine Lösung im Sinne von Er-Lösung erst möglich machen. Oftmals platzt der Knoten, entspannt sich das Gegenüber, wenn ich es schaffe, ganz mein Herz für sie oder ihn aufzumachen statt im Handlungsmodus zu bleiben.
Der Drang zum Tun, zur Aktivität steckt tief in uns allen. Wir Menschen sind ein umtriebiges Völkchen, seit jeher mit dem Trieb nach Mehr, nach Wachstum, Verbesserung und mit entsprechender Tatkraft ausgestattet. Diese Power versetzte uns in die Lage, Pyramiden zu errichten, Völker zu besiegen, Welthandelsbanken aufzubauen und Schulen zu gründen. Unser blinder Fleck liegt derweil darin, nicht zu sehen, wann wir den Gang wechseln müssen und auf Innehalten, Ankommen, Sein und Genießen umschalten sollten.
Das Ego und die Verherrlichung des Tuns
Das bloße Sein erfährt in unserer Zeit noch recht wenig Anerkennung. In einem Schulsystem, was Wert auf Resultate in Form von Noten und Klausuren legt, finden die unsichtbaren Qualitäten wie einander emotional auffangen, einbinden, vermitteln oder für Harmonie sorgen geringere Aufmerksamkeit und folglich Anerkennung. Was nicht auf dem Zeugnis steht, gilt nicht viel. Zahlreiche gesellschaftliche Mythen verfestigen zudem das Bild vom erfolgreichen Macher: „Ohne Fleiß keinen Preis.“, „Glück muss man sich erarbeiten.“ bis hin zu „Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.“ Also den Propeller wieder aufgezogen und ab aufs Hamsterrad! Wir sind ja nicht zum Faulenzen hier.
In meiner Selbstbeobachtung erkenne ich, wie sehr es mir Genugtuung verschafft, ein Resultat abzuliefern, etwas Erreichtes vorzuweisen. Schnell bestärken Zertifikate, Aufträge oder neue Titel diese Dynamik. Mein Ego wird gepampert und wie gut geht es mir damit!
Ich bin zugleich wirksam und hey, wie gerne wirke ich doch auf dieser Welt! Nur ist die Frage noch offen danach, ob sich das Wirken nicht auch auf weniger spektakuläre Weise ausdrücken kann? Die weibliche Art der Arbeit wird häufiger damit beschrieben, leise im Hintergrund ihre Kraft zu entfalten, während sich der männliche Weg konkreter anfühlt. Vielleicht schätzen wir das Wirken im Verborgenen auch deshalb weniger, weil es sich so schlecht erfassen lässt. Seine Ergebnisse sind in unserer materialistischen Welt kaum in Zahlen zu benennen, die das Äquivalent zu Erfolg darstellen.
Das bedingungslose Grundeinkommen als Brücke zwischen Sein und Tun?
Vielleicht kommen wir letztendlich auch deshalb nicht mehr lange um das bedingungslose Grundeinkommen herum. Einen Betrag X, der mir das Leben sichert und mich dafür beschenkt, einfach nur zu sein. Wie wunderbar muss sich das anfühlen! Nun gibt es durchaus Vertreter, die bezweifeln, ob der Müll dann noch abgeholt, die Klos noch geputzt und die Fliesen verlegt würden, wenn es denn niemand mehr müsste. Dahinter steht die zu entlarvende Annahme: der Mensch ist ein recht faules Wesen mit dem Hang sich vor allem um sich selbst zu kümmern. Er braucht die Karotte bzw. den Arschtritt, bevor er sich ans Fließband schwingt und uns die Burger serviert. Das Argument lässt tief blicken und ich frage mich, wie es um Motivation und Selbstbild desjenigen steht, der dies behauptet?
Was das Mitgefühl für uns selbst blockiert
Für mich haben die weiblichen Seinsqualitäten ebenso zu tun mit der Arbeit mit Emotionen und den subtileren Bereichen unseres kollektiven wie individuellen Selbst. Den Blick auf mich richtend erkenne ich: auch nach einigen Jahren der inneren Arbeit weiche ich dieser unbemerkt immer mal wieder aus. Trotz aller Momente des höchsten Glücks schaut ein Teil von mir weiterhin nicht gern auf das, was sich an Gefühlen, Empfindungen und Schattenthemen zeigt. Warum sich auch damit auseinandersetzen, das Leben hat doch genug zu bieten, was ungleich Freudvoller ist? Warum sich quälen mit Hoffnungslosigkeit, Ärger, Trauer oder Verletzung?
Dabei wurde mir kürzlich nochmal klar: in esoterischen Kreisen gehört es oftmals zum Gedankentum, sich schuldig zu fühlen, wenn bspw. der Körper durch Krankheitssymptome anzeigt, dass wir nicht mehr in der Balance sind. Was habe ich also falsch gemacht, wenn sich meine linke Seite schmerzhaft zusammenzieht? Das schlechte Gewissen plagt mich und mit ihm die Abwehr mich meinen inneren Prozessen zuzuwenden. Diese sabotierenden Muster erkennen und auflösen zu wollen macht oft müde und strengt an. Vielleicht auch ein Resultat meiner eher männlichen Prägung: indem ich mich zu verstehen versuche und folglich an mir arbeite, bleibe ich schaffend im ewigen Rad des Tuns. Das Pendant wäre, mir selbst stattdessen mit Mitgefühl zu begegnen. Liebe statt Urteil.
Wo kein Urteil ist, da ist kein Schmerz.
Marc Aurel
Es bleibt ein Weg und ein hoffentlich müheloses Bemühen, mich mit allen Anteilen in mir gut zu stellen. Ich wünsche mir und allen, jede Qualität, die das Leben uns mitgegeben hat, anzuerkennen und in unserer Person zu einem harmonischen Ganzen zu integrieren. Ganz ohne Verbissenheit, sondern mit geduldigem, liebevollem Bewusstsein können wir uns aufmachen, das Zarte, Verletzliche ebenso wie das aktiv Schaffende in uns zu vereinen und aus einem balancierten Sein heraus zu gestalten. Ein nächster Schritt in diese Richtung weist für mich in die Stille und in 4 Wochen Auszeit, die ich bewusst mit Handlung sowie wie mit So-Lassen füllen mag. Mal schaun, was meine linke Seite dazu sagt ;)
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