Erwachsen werden
Ich war am Wochenende auf einem Aufstellungsseminar. Ein guter Ort zur Sortierung und tiefen Erkenntnis. Dieses Mal merke ich: vieles in mir wurde bereits erkannt und ans Licht gehoben. Das löst ein beruhigendes Gefühl aus, auch wenn ich ahne, dass sich die Spirale unaufhörlich weiterdreht und neue, markante Themen in mein Leben treten werden.
Der Kern dieses Seminars hatte sich unmerklich in unsere Runde geschlichen und beherrschte zunehmend unsere Gespräche: das Erwachsenwerden. Eine der größten Entwicklungen, die wir Menschen im Laufe unseres Lebens vor uns haben.
Faktisch sind wir mit 18 Lebensjahren in die juristische Volljährigkeit eingetreten. Wir sind ab nun selbstverantwortlich für unser Handeln und können uns nur noch in Ausnahmen seiner Konsequenzen entziehen. Praktisch stellt es sich jedoch oft so dar, dass unser Handeln häufig geprägt ist von kindlichen Verhaltensmustern, die uns zumeist nicht bewusst sind. Immer dann, wenn wir überzogene Forderungen an unser Gegenüber richten, wenn wir uns fest an eine Sache krallen, auch wenn diese uns nicht gut tut. In Momenten, in denen wir uns hilflos, gelähmt und klein fühlen, obwohl die Realität rein augenscheinlich zu bewältigen wäre.
Halten wir an dieser Stelle inne und lauschen der Stimme, die sich dazu in uns meldet, begegnen wir nicht allzu selten einem Teil in uns, der sich anfühlt als wäre er 10 Jahre alt. Oder 7, 4, 12. Auf alle Fälle nicht 40. Oder 56. Oder 35.
Wir merken: statt in unserem erwachsenen Selbst zu sein, sind wir zurückgefallen in ein kindliches Reaktionsmuster, welches sich durch entsprechende Umstände und Situationen zum damaligen Zeitpunkt in uns herausgebildet hat. Vielleicht haben wir als Kinder ein Ereignis erlebt, welches uns mit unseren damaligen Bewältigungsstrategien überfordert hat.
Wenn diese Überforderung nicht gesehen oder aufgefangen wurde, bleibt sie in uns und meldet sich in Form unseres inneren, kindlichen Anteils in den Momenten, die an die frühere Situation erinnern.
Vor allem immer dann, wenn wir von anderen oder dem Leben fordern, er/sie/es möge anders sein, meldet sich nicht selten unser inneres Kind in uns, welches zu seiner Zeit einige Entbehrungen auf sich genommen hat. Rückt dieser Teil auf die Vorderbühne, kommt es mitunter dazu, dass wir unrealistische Erwartungen und Forderungen an andere richten - die eigene Mutter, den Vater, den Partner oder die Partnerin und auf unserem Standpunkt beharren. "Wenn der nicht..., dann werde ich auch nicht..." Ich werde fest in meinem Fordern, fast trotzig in der Beharrlichkeit, die sich mitunter damit verbindet. Ähnlich wie der/die Kleine, die munter mit ihrem Fuß aufstampft, bis sie kriegt, was sie/er will.
In solchen Fällen ist es gut, wahrzunehmen: wie alt ist der Teil, der das gerade sagt, fragt oder will? Diese Frage hilft, um zu erkennen: der oder die Erwachsene in mir würde wahrscheinlich wenig so sprechen. Ihr oder ihm ist bewusst: das Leben lässt sich nicht darauf reduzieren, dass einer etwas tut, damit es mir besser geht. Erst, wenn ich von dieser Forderung ablasse und wieder ganz bei mir ankomme, kann ich schauen: was kann ich mir Gutes tun, damit es mir besser geht? Was dient mir?
Ich hole die Verantwortung für mein Leben zu mir zurück - mit allen Konsequenzen.
Ist es doch das, was Erwachsensein ausmacht: ich treffe Entscheidungen, lebe mein Leben und nehme die Folgen ganz zu mir. Statt sie anderen in die Schuhe zu schieben oder mich darüber zu beklagen, wie das Leben mir zusetzt, gehe ich in die Verantwortung für mich selbst. Das macht es manchmal nicht leichter, ich erlebe jedoch oft, wie wir Menschen innerlich größer, zugleich würdevoller werden, wenn wir unser Schicksal ganz zu uns nehmen. "Ja" zu ihm sagen. Und aus dieser Aufrichtung heraus unseren eigenen Weg weitergehen. Was für eine Kraft, die dadurch zu uns strömt!
Erwachsen zu werden hat ganz essentiell etwas damit zu tun - ganz "Ja" zu sagen zu dem, was ist. Die eigene Vergangenheit, Gegenwart und auch Zukunft auf eine Weise anzunehmen, dass ich anerkenne: all das gehört zu mir. Wie auch immer ich es finde, es gehört zu mir. Ich nehme es auf mich.
Hieran erinnert mich auch immer wieder die Aufstellungsarbeit, die manchmal ganz plastisch zeigt, wie wir Menschen innerlich aufgerichteter und vollständiger werden, wenn wir zu uns selbst und unserem Schicksal stehen. Wir können es in diesem Kontext sogar verkörpern und sehen, was es macht, wenn der Einzelne sein oder ihr Schicksal ganz zu sich nimmt. Bei allem Leid, was damit mitunter verbunden ist: lieber tragen wir es selbst, als dass wir wollten, dass andere das für uns tun.
Ein Satz in unserem Seminar drückte das gut für mich aus: "Die Wirklichkeit ist freundlich - wenn wir ja zu ihr sagen." Ich erlebe selbst jedoch, wie schwer ich mich manchmal mit dieser Quintessenz tue. Gern hätte ich bestimmte Dinge oder Personen anders. Erst dann kann ich glücklicher, zufriedener, leichter werden. Erst dann ist das Leben schön. Diese Betrachtungsweise wirkt jedoch kindlich. Im Laufe meines Erwachsenendaseins begreife ich immer mehr: das Leben ist schön und schrecklich zugleich. Beides gehört dazu. Dies anzuerkennen versetzt uns Menschen erst in die Lage, die Herrlichkeiten zu sehen und vollends zu genießen.
Erwachsen zu werden ist demnach ein Prozess, der das Ja zu dem, was mir begegnet, vollends vollzieht. Ich blicke auf die Tatsachen und erkenne sie als das, was sie sind: des Lebens Gegebenheiten, nicht mehr und nicht weniger. Im Grunde reiße ich mir den kindlich-naiven Schleier vom Gesicht, der einst dazu geführt hat, dass ich mir die Welt heile und schön ausmale. Plötzlich wird alles recht nüchtern.
Dieser Moment beherbergt eine ganz neue Möglichkeit, die so vorher noch nie da war: ich kann zum Gestalter meines eigenen Lebens werden, Mit neuem, klaren, unverstellten Blick.
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