Vom Missverständnis, nicht mehr bewerten zu dürfen
- Caroline Winning
- vor 15 Stunden
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Man hört es allerorten: Zu bewerten sei schlecht. Man solle nicht (mehr) bewerten – schließlich gäbe es ja auch kein Richtig und Falsch und damit keine Grundlage für Bewertungen, egal ob negative oder positive. Auch unter Praktiker:innen der Gewaltfreien Kommunikation herrscht oft das Credo, Bewertungen seien im Widerspruch zur Lebensdienlichkeit. Alles, was statisch ist statt lebendig und prozesshaft, sei dem Leben weniger angemessen und daher nicht zu bevorzugen.
Die Schwierigkeit dieser Auseinandersetzung liegt – wie so oft – in ihrer Vereinfachung. Statt sich im Entweder-oder zu bewegen, braucht es einen differenzierten Blick auf unseren Umgang mit Bewertungen.

Bewertungen als Kompass des Lebens
Bewertungen sind zunächst einmal ein Mittel, sich im Leben und seiner durchdringenden Vielschichtigkeit besser zu orientieren. Evolutionär gesehen war es überlebenswichtig, ein Rascheln möglichst schnell als Lebensgefahr oder harmloses Windspiel zu bewerten. Wäre es tatsächlich der Säbelzahntiger gewesen, wären wir als Spezies heute nicht mehr hier. Bewertungen dienen also, uns im Leben zurechtzufinden und – ohne größeren kognitiven Aufwand – die Welt zu begreifen.
„Das ist giftig“, „Er wirkt verschlagen“, „Das macht mir Angst“ – all das sind Bewertungen, die uns durch ihre schnelle, oft intuitive Einschätzung Orientierung und damit Sicherheit schenken. So erfüllen sie bis heute ihren evolutionären Auftrag, unser Überleben zu sichern.
Ohne Bewertungen könnten wir zudem keine Unterschiede wahrnehmen. Die Welt wäre ein schwammiges Alles-und-Nichts. Erst Differenzierung ermöglicht Erkenntnis und Entwicklung. Wo wir unsere Bewertungen bewusst reflektieren, erkennen wir, wo sie aus Konditionierungen stammen – und wo sie Ausdruck von Integrität oder Reife sind.
Das Leben selbst bewertet fortwährend
Viel grundlegender können wir zudem sagen, dass das Leben fortwährend selbst „bewertet“. Indem es weiterführt, was dem Überleben dient, und beendet, was ihm schadet, legt es klare Maßstäbe für seine Existenz an. So bleibt letztlich auch die Frage offen, wie es mit dem Experiment Menschheit verfahren wird...
Wenn Bewertungen zur Waffe werden
Bewertungen, die wir über Menschen treffen, können jedoch – wie alles – missbräuchlich eingesetzt werden und damit zum Machtinstrument werden. Menschen, die Maßstäbe zur Leistungserfassung entwickeln und anwenden – sei es durch Noten, Persönlichkeitstests oder Kompetenzprofile –, halten potenziell Macht über andere in ihren Händen. Sie entscheiden damit häufig über deren Schicksal.
So tragen sie eine Waffe, die schärfer ist, als ihnen bewusst ist. Ein unachtsam gesprochenes „Du machst das falsch“, das zarte Kinderohren erreicht, wird in deren Köpfen schnell zu einem sich verfestigenden Urteil, das da lautet: „Ich bin falsch“ – und damit unwürdig, unwert, schuldvoll. So sind mangelndem Selbstwertgefühl Tür und Tor geöffnet.
Die Macht von Worten – besonders bei Kindern
Gerade die sich noch entwickelnden Persönlichkeiten von Kindern, die das Gehörte in bestimmten Entwicklungsphasen 1:1 glauben und damit in ihre Persönlichkeitsstruktur einflechten, sind undurchdachten Bewertungen Erwachsener so oft schutzlos ausgeliefert. Plump hingeworfene Bewertungen jeder Art – vom unehrlichen Lob bis hin zum boshaften Tadel – können hier viel Schaden anrichten. Denn das Bedürfnis, dazuzugehören und die Loyalität des eigenen Stammes (Familie und engere Bezugspersonen) nicht zu gefährden, überwiegt gegenüber dem individuellen Autonomiebestreben, das eigene Weltbild zu entwickeln.

So existiert immer ein schmaler Grat zwischen Bewertung als Machtinstrument und als Weg, Wachstum gesund zu begleiten. Ken Wilber hat in seiner Integralen Theorie diesbezüglich wiederholt über den Unterschied von Herrschafts- und Wachstumshierarchie gesprochen. Während bei Ersterer Bewertungen als Instrument zur Unterdrückung eingesetzt werden, dienen sie bei Letzterer dazu, Entwicklungsprozesse angemessen zu fördern.
Das grüne Dilemma der Postmoderne
Seit der Postmoderne und ihren „grünen“ (Achtung: Bewertung!) Verfechter:innen erleben wir jedoch ein grundsätzliches Fremdeln – ja, oft eine Ablehnung – gegenüber Hierarchien aller Art, weil diese mit Machtmissbrauch gleichgesetzt werden. Dabei verwerfen grüne Denker:innen unbewusst auch die Vorstellung von Wachstum, bei dem eines auf dem anderen aufbaut.
Mit dieser ignoranten Anschauung ist bereits viel Zerstörung angerichtet worden. Da jegliche Entwicklung plattgerodet wird, gelten alle Ansichten als gleichwertig – egal, wie wenig integrierend sie sind.

Wenn beispielsweise in einem Team eine hitzige Diskussion darüber entbrennt, ob zukünftig gegendert werden soll, verliert sich darin oft die eigentliche Frage: Werden die Bedürfnisse aller – und vor allem die der Organisation – berücksichtigt oder nur die einer Minderheit? Zu oft haben wir in den letzten Jahren erlebt, wie die Anliegen kleinerer Gruppen den gesamten Rest vor sich hergetrieben haben.
Das Ergebnis war häufig ein Gefühl, sich nicht wirklich gegenseitig zu sehen, während die eigentlich wichtige Perspektive aus dem Blick geriet: Was dient dem Ganzen, damit es sich gesund weiterentwickeln kann? Dem Team, der Organisation, der Gesellschaft, dem Kind, der Erde? Was dient allen?
Bewerten heißt unterscheiden – nicht verurteilen
Bewerten ist nicht das Problem – die Frage ist, wofür. Wenn Bewertungen dazu beitragen, gesunde Entwicklung zu fördern, sind sie unverzichtbar. Und doch: Gerade dort, wo Klarheit nötig wäre, schrecken viele vor einer deutlichen Position zurück. Ich erlebe es immer wieder, wie sich aus einer klaren Haltung mit dem Scheinargument herausgewunden wird, man dürfe ja nicht bewerten und die eigene Meinung über die anderer stellen.
Ich sage: Doch, man darf – man muss sogar. Und zwar immer dann, wenn man sieht, dass Entwicklung Schaden nehmen würde.
Wenn ich mit einem Kind mit Entwicklungsverzögerungen zu tun habe, braucht es ein eindeutiges Benennen dessen, was ist, um ihm bestmöglich zu helfen. Falsche Höflichkeit wäre hier fehl am Platz und würde das Kind um Jahre zurückwerfen.
Wenn ich mit einer neuen Mitarbeiterin arbeite, braucht sie klare Richtlinien, um ihrer Aufgabe gut nachgehen zu können. Halte ich mich mit Bewertungen zurück, weil ich Angst habe, mit meiner Macht konstruktiv umzugehen, öffne ich der Beliebigkeit Tür und Tor. Qualitatives, professionelles Handeln ist kaum mehr möglich, wenn jede:r tut, was sie oder er für richtig hält.
Auch ausgrenzende Ansichten verlangen meine Integrität: mich entschieden zu positionieren, die möglichen Schäden für das Miteinander sichtbar zu machen und die Würde des Lebens zu verteidigen – überall dort, wo sie verletzt oder bedroht wird.
Die Angst vor klaren Worten
Die Angst vor klaren Worten verbirgt sich häufig hinter dem Zögern, auf Bewertungen zurückzugreifen. Eine Schicht tiefer treffen wir auf frühe Kindheitserfahrungen, in denen wir für unsere Meinung beschämt oder ausgegrenzt wurden.
Auch kollektive Prägungen wirken nach: Die Angst vor Ausschluss sitzt vielen von uns noch heute im Nacken. Sie erinnert dunkel an die evolutionäre Notwendigkeit, Teil des Stammes zu bleiben, um das eigene Leben nicht zu gefährden.
Als Deutsche müssten wir nicht mal so weit in die Geschichte zurückgehen – ein Blick in die Nazi- oder DDR-Zeit genügt. Abweichlertum wurde hier schnell und rigoros mit dem Leben bezahlt.

Bewusstheit statt Bewertungsfreiheit
Es braucht eine integre Haltung – besonders in Zeiten von Verunsicherung und undurchsichtiger Komplexität. Nutze ich Bewertungen klug und als Advokatin gesunder Wachstumsprozesse von Erde, Mensch oder Organisation, ist sie ein lebensdienlicher Akt. Nutzen wir Bewertungen hingegen, um unser Ego groß und das Gegenüber klein zu halten, richtet sie zuweilen massiven Schaden an. Das Ziel ist damit gesetzt: Es geht nicht um Bewertungsfreiheit, sondern um Bewusstheit in der Bewertung.
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