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Wie wollen wir leben? Ein Plädoyer für ein würdevolles Miteinander

Würde. Ein schweres Wort, fast so, als müsste man jahrhundertealten Staub von ihm abschütteln. Genau zu diesem Wort hielt Gerald Hüther zusammen mit dem Therapeutenpaar Baer-Frick vor Kurzem einen aufrüttelnden und inspirierenden Vortrag. Es war ein ergreifendes Plädoyer für eine Gesellschaft, die erkennt, in welch würdelosen Zustand sie geraten ist und sich aufrappelt, ihre eigene Würde wieder zurückzuerobern.

Würdevoll leben? Wir müssen reden!

Es wurden Beispiele aus Krankenhäusern, Schulen, Arbeitsplätzen und aus den eigenen 4 Wänden benannt, die allesamt zeigten, wie unachtsam wir einander oft behandeln. Im Resultat finden wir uns in einer Beziehung wieder, in der einer den anderen dominiert. Hüther spricht davon, einander zum gegenseitigen Objekt zu machen. Unsere Würde ist das Erste, was dabei auf der Strecke bleibt. Wie leicht dies geschieht, sehen wir tagtäglich in Form von Abwertung, Beschuldigungen, Ignoranz, Belehrung, Androhung oder dem Hang, es sich auf Kosten des anderen besser gehen zu lassen. 


Um uns selbst zu schützen, hauen wir drauf oder ziehen uns zurück, sprich wir aktivieren die ältesten Menschheitsprogramme, Flucht oder Angriff. Kommt uns einer blöd oder befürchten wir bloßgestellt zu werden, sind es vor allem diese Verhaltensweisen, die zu Tage treten. All das zu Lasten offener, vertrauensvoller und mitfühlender Beziehungen. Unterschwellig tragen gesellschaftliche Glaubensannahmen wie „Jeder ist sich selbst der Nächste“ dazu bei, sich auf seinen eigenen Vorteil zu besinnen. Solange wir noch nicht die Erfahrung machen, dass wir Menschen im Kern kooperative Wesen sind, die zum Wohle aller beitragen wollen, begegnen wir einander eher misstrauisch. So kann der Schmerz vermieden werden, den wir erfahren, wenn unser Vertrauen missbraucht, unsere Nächstenliebe nicht erwidert wird. 


Miki Kashtan, Pionierin der Gewaltfreien Kommunikation, nennt eine von 17 Selbstverpflichtungen:In jedem Fall lieben! Eine Forderung, wie sie im Buche steht, die uns abverlangt, unsere Herzen offen zu halten, selbst wenn unsere eigenen Bedürfnisse ernsthaft unerfüllt sind (https://pioneersofchange.org/core-commitments/). 

Ich erlebe dies als eine der schwersten Aufgaben menschlichen Seins. Manchmal schmerzt mich ein Kontakt mit einem Menschen so sehr, dass ich ihn oder sie am liebsten ins All schießen möchte. Mich danach wieder mit der Güte und Liebe meines Herzens zu verbinden, grenzt da ans Unmögliche. In mir ist vielmehr der Impuls, es dem Anderen nun erst recht so richtig zu zeigen. Und wenn er oder sie dazu nicht zur Verfügung steht, findet sich schon ein anderer, an dem ich meinen Frust auslassen kann. Alternativ bleibt mir immer noch die Möglichkeit, der Welt den Finger zu zeigen und mich zu verkriechen.  Alles, nur nicht erneut so verletzt werden!


Sich in solchen Momenten der eigenen Würde zu besinnen, kann helfen, aus der inneren Not herauszuklettern. Denn würdevoll zu leben bringt mit sich, sich liebevoll um sich selbst zu kümmern. Hierbei hilft mir immer wieder die Gewaltfreie Kommunikation, die mich auffordert, alle Gefühle, alles Ringen und allen Schmerz bewusst wahrzunehmen. Statt Ablenkung erfolgt ein wertfreier Blick auf das, was sich in mir bewegt. Ich öffne mich für das, was ist, lasse es durch mich hindurch fließen und lehne nichts ab. Stattdessen schenke ich mir volle Zuwendung, empathische Anteilnahme und Wertschätzung dessen, was ist.  Ich pflege eine Beziehung zu mir selbst, in der ich darauf achte, mich durch Selbstbeschuldigung nicht länger zum Objekt meiner selbst zu machen.  Das dies anstrengend und mitunter unmöglich erscheint, ist mir bewusst. Es mag an Heiligkeit grenzen, sich selbst derart einfühlsam zu begleiten. Auch hier gilt daher: der Weg ist immer schon das Ziel! Jeder noch so kleine Versuch, seine eigene Würde auf diese Weise zu bewahren ist es wert, unternommen zu werden. Schließlich hilft mir das Wissen, dass auch hier die Übung den Meister macht. Je öfter ich mich im Wahrnehmen und Annehmen meiner eigenen Gefühle trainiere, desto leichter fällt es mir das nächste Mal, mich aus meinem Verletzungssumpf zu ziehen.  Unterstützt durch die neueren Erkenntnisse aus der Neurobiologie lerne ich zunehmend, eine andere, eine liebevolle Beziehung zu mir selbst zu pflegen. Leben muss kein Kampf sein, wie wir noch bis vor Kurzem überzeugt gedacht haben. Es ist auch kein miteinander Konkurrieren, kein Gegeneinander; vielmehr werden wir als von Natur aus kooperierende Wesen geboren, die bereits von Haus aus Fähigkeiten wie Anteilnahme und den Wunsch beizutragen mitbringen.  Entlang unserer Sozialisationsstrecke brauchen wir jedoch positiv ermutigende Erfahrungen dieser Art, um ein Leben in Würde (vor-) zu leben. Kontinuierliche Erlebnisse von Entwürdigung führen dazu, ein auf Misstrauen basierendes Grundmuster zu entwickeln. So ausgestattet verfallen wir leicht in Handlungen, die uns selbst und andere abwerten und folglich weiteren Würdeverlust nach sich ziehen. Gerald Hüther wäre jedoch nicht Gerald Hüther, wenn er uns nicht Mut machen würde: so braucht es oft nur eine einzige andersartige, einladende Erfahrung mit einem Menschen, um uns aus dem Trugschluss zu befreien, die Welt wäre ein schwarzer Ort. Das kann der Lehrer sein, der an uns glaubt, die Chefin, die uns mehr zutraut als wir uns selbst oder der Großvater, der unsere innewohnenden Schätze sieht, wo andere nur gemeine Absichten entdecken. Eine einzige inspirierende Herzensbegegnung und unser Gehirn beginnt, uns die Welt mit anderen Augen sehen zu lassen. Mit den Worten von Albrecht Mahr gesagt: „Negativ gesprochen können wir uns eigentlich nie mehr auf die faule Haut legen in der Annahme, unser Leben sei halt gelaufen.“ ("Von den Illusionen einer unbeschwerten Kindheit und dem Glück, erwachsen zu sein") Individuell wie gesamtgesellschaftlich Beziehungen zu gestalten, die aufrichtend, achtungsvoll, auf Augenhöhe und uns in unserer Würde stärkend sind, legt die Zielmarke für unsere Gesellschaft vor. Dies gilt in allen Kontexten, in denen Menschen einander begegnen. Wir müssen achtsam dafür werden, wo würdeloses Verhalten beginnt und uns gegenseitig daran erinnern, uns in unserer Subjektivität und Menschlichkeit zu stärken.  Gerald Hüther sagt nicht umsonst:

"Das zutiefst Menschliche in uns zu entdecken, wird zur wichtigsten Aufgabe des 21. Jahrhunderts."

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