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  • Caroline Winning

Spiritueller Narzissmus - höher, weiter, erleuchteter

In unserer aktuellen Zeitqualität sind wir mehr und mehr eingeladen, über unsere spürende Resonanz mit der Welt in Kontakt zu treten. Statt Autoritäten oder starren Konzepten anzuhängen, will uns die innere Stimme den Pfad weisen, der für jede/n individuell unterschiedlich ist. So-wirds-gemacht-Dogmen verfangen zunehmend weniger, auch wenn diese in der spirituellen Szene subtiler und damit weniger durchschaubar daherkommen.

Die Gefahr, sich zum folgsamen Mitläufer zu machen, erleben wir überall dort, wo Menschen aufeinandertreffen. Ob in der Politik oder auf dem Seminarstuhl - die Versuchung, fremde Wahrheiten fraglos zu übernehmen, wächst mit der inneren Unsicherheit. Je geringer Selbstwert, Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen, desto größer die Wahrscheinlichkeit, Meinungen zu kapern statt sich eigene zu bilden. Ein schwankendes Rohr neigt sich leicht im Wind.

Das Phänomen des spirituellen Narzissmus, also die Aufwertung des eigenen Ichs mit Hilfe spiritueller Theorien und Praktiken, bietet einen satten Nährboden für unreflektierende Anhängerschaften egozentrischer Weisheitsprediger:innen. Da, wo die einen sich mittels Erleuchtungsrankings überhöhen, verfallen die anderen in Bewunderung, die zu blindem Nachahmen aufruft - fern der eigenen inneren Stimm(igkeit).

Futter erhält spiritueller Narzissmus einerseits durch die unbewusste, kindliche Sehnsucht dazu zu gehören sowie dadurch, die eigenen Ängste in spirituellen Konzepten auflösen zu wollen. Hinzu kommt eine Prägung, die vermittelt, die eigene Wahrnehmung zuungunsten der Ansagen von Autoritäten zu opfern. All diese Ursachen legen einen soliden Grundstein für vorschnellen Glauben und strebsames Nacheifern.



Gefährlich wird es, wenn diese Dynamiken nicht bewusst gemacht, sondern sogar genutzt werden, um bestimmte Ideen oder Konzepte fraglos an die Gefolgschaft zu übermitteln. Kritik ist hier selbstverständlich ausgeschlossen, denn Person oder Idee stehen in ihrem grandiosen Glanz über den Beurteilungen "profaner" bzw. weniger weit entwickelter Anhänger.

Eine schädigende Kultur der abnickenden Anpassung und Unterordnung unter den Rat "weiser" oder spirituell "entwickelterer" Menschen treibt so munter ihre Blüten.

Wir können eine solche ungesunde Gemeinschaft daran erkennen, dass Kritik nur scheinbar eingeladen wird - den Worten folgt in der Regel keine Tat. Stattdessen wird mantramäßig wiederholt, was man/frau alles tun müsse, um sich spirituell ebenso weit emporzuschwingen - ein neues Leistungsdogma wird geschaffen, das zu Druck, Vergleich und innerer Selbstabwertung führt. Selbstzweifel prägen das Klima und werden zum "Schatten" der "weniger weit entwickelten" Person erklärt, um den diese sich noch nicht ausreichend gekümmert habe. Kreativität, Lust, Freude und Humor gehen verloren, weil sich kaum noch jemand traut, die spirituellen "Weisheiten" als egozentrische Manipulationstaktiken zu entlarven.

Wahrheiten über den einen Weg, ungebremste Selbstdarstellung in Form endlosen Redeflusses, Selbstzweifel bei allen übrigen außer der sich überhöhenden Person, leere Worte statt Taten und Aufwertungen der eigenen Person mittels spiritueller Konzepte sind die Zutaten für spirituellen Narzissmus. Er ist damit genauso gefährlich wie klassischer Narzissmus, schafft er doch demütigende Abhängigkeiten und ein Klima des Duckmäusertums. Da, wo kritiklose Bewunderung oder die Furcht herrscht, nicht mithalten zu können, besteht alles andere als ein Feld des Wachsens aus purer Entwicklungsfreude. Diese wird nur dann gefördert, wenn Menschen Ermutigung, Vertrauen und die Einladung erhalten, ihren eigenen Rhythmus zu finden. Dort, wo Mensch in seiner einzigartigen Individualität gesehen und gefördert wird mit den Ressourcen, die sie oder er bereits mitbringt, kann GEIST sich wahrhaft entfalten. Wo zu früheren Zeiten noch disziplinarische Strenge herrschte, um die Kapriziösen des Egos zu bändigen, wächst heute die Haltung einer wohlwollenden Einladung, als Mensch immer weiteres Bewusstsein zu erlangen.

Authentisch spirituell reife Menschen legen Zeugnis davon ab, indem sie die Vielfalt und Schöpfung in jedem Moment zelebrieren. Je weiter der spirituelle Weg gedeiht, desto mehr sind sie mit dem verbunden, was sich gerade zeigt und "containen", also halten es in ihrer wachen Präsenz - Emotionen, Urteile, körperliche Empfindungen, Bedürfnisse - das ganze Potpourri menschlicher Existenz. Sie stehen nicht über den Dingen oder haben sie gar hinter sich gelassen. Vielmehr erleben sie in allem den Funken des einen Bewusstseins - sowohl, wenn sie die Welle reiten als auch, wenn sie einen gelegentlich mal wieder mitreißt...


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