Wirksam arbeiten mit dem Gedächtnis von Organisationen
Organisationen haben ein Gedächtnis. Ähnlich wie wir Menschen speichern sie historische Informationen in Form von organisationalen Erfahrungen und Glaubenssätzen ab und geben sie an neue Mitarbeiter*innen weiter. Diese Tatsache wird niemanden verwundern, der es schon einmal erlebt hat, wie ein Team bereits lang vergangene Geschichten hervorkramt, obwohl niemand vom damaligen Kollegium noch da ist. Es ist förmlich so, als hätte die Geschichte ihr Eigenleben und würde sich verselbstständigen, wenn sie nach Urzeiten immer noch im Bewusstsein der heute Anwesenden rumort.
Während einer Teamentwicklung tauchte kürzlich solch eine vergangene Erfahrung mit aller Wucht wieder auf. Ich hatte einen Rückblick angedacht und eingeladen, die Teamgeschichte á la "Es war einmal..." zu erzählen - vom Anfang bis heute. Sofort setzte Abwehr ein: "Das werden wir nicht wieder hervor holen, darüber will ich auf keine Fall nochmal sprechen, diese Wunde will ich nicht mehr aufreißen." Solche und ähnliche Worte sorgten dafür, dass wir allesamt hellwach wurden. Die Atmosphäre im Raum verdichtete sich bis zum Zerreißen. Offentsichtlich war es in der Vergangenheit zu sehr schmerzhaften Erfahrungen gekommen, die denen, die dabei gewesen waren, noch immer wie ein giftiger Stachel im Fleisch sitzen.
Alte Verletzungen hinterlassen ihre destruktiven Spuren und wirken sich bis zum heutigen Tag aus. Im Beispiel des Teams wurde das Vertrauen einst dadurch zerstört, indem ihr Engagement durch die Führungskräfte ungewürdigt blieb. Es ließ sich erahnen, dass ihre Ideen und Vorschläge sogar gegen sie gerichtet worden waren, was eine doppelte Verletzung hervorgerufen hatte.
Im Angesicht solch schmerzhafter Erfahrungen wird deutlich, wie wesentlich das Wissen um die Historie eines Team ist. Für Führungskräfte, vor allem später hinzugekommene, sind diese Infomationen unabdingbar, sofern sie nicht in die Fallen tappen wollen, die solch eine traumatische Erfahrung produziert. Aus systemischer Sicht wissen wir: schmerzhafte Verletzungen erzeugen Symptomverhalten und re-inszenieren sich neu, um auf die noch nicht verheilte Wunde aufmerksam zu machen. In der Begleitung von Teams spielt die Rückschau daher eine wesentliche Rolle für das Verständnis von Teamdynamiken und Arbeitsabläufen. Es dient die Frage nach dem dahinter liegenden Thema und der Bedeutung des sichtbaren Verhaltens. Worauf macht uns das Sichtbare aufmerksam?
Führungskräfte sind gut darin beraten, sich die systemische Perspektive zu eigen zu machen und den Blick für das, was gesehen werden will, offen zu halten. So erschließen sich Sinnzusammenhänge für ansonsten oft unverständliches Verhalten.
Im Beispiel kann bestehende Führungskraft bestimmte Widerstände besser einordnen. Es gelingt ihr mit der Erkenntnis leichter, Protest oder Ablehnung nicht persönlich zu nehmen. Sie kann zudem eher verstehen, weshalb es - vielleicht anders als gewohnt - mehr Skepsis und Zurückhaltung in partizipativen Prozessen gibt. Dem Team dient der systemische Blick zu erkennen, wo noch Heilungspotential sitzt und wie ihr erfahrenes Leid dazu führt, dass ihr Misstrauen mitunter stärker ist als es die Situation erfordert.
Das Wissen um das organisationale Gedächtnis zeigt, wie sehr die Zukunft eines Teams oder einer Abteilung dadurch beeinflusst und gestaltet wird. Auch hier braucht es 7 (Team-)Generationen, bis vielleicht einmal genügend Gras über die Sache gewachsen ist. Auf dem Weg dahin bedarf es Anerkennung und Bewusstheit über das Geschehene. Lassen sich Teams jedoch bereits vorher auf einen Heilungsprozess ein, können die schmerzhaften Spuren als entscheidende Lernerfahrungen verarbeitet und integriert werden. Das Ergebnis ist ein gereiftes Team, welches seine Widerstandsfähigkeit enorm erweitert hat.
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