Das Leid unserer Vorfahren und sein Einfluss auf unser heutiges Leben
Um das Wesentliche gleich vorweg zu nehmen: das Schicksal unserer Ahnen hat eine weitaus größere Wirkung auf unsere Lebensverläufe als uns bewusst und lieb ist. Er geht soweit, dass wir ihre Ängste, ihre Überzeugungen, ihre Verletzungen, ihren Schmerz sowie ihr Potential, ihre Liebe und ihre Kraft in uns tragen. Egal, ob wir mit ihnen in Frieden sind oder auf Kriegsfuß stehen: wir setzen fort, was sie an Leid und Licht in sich tragen.
Die Beschäftigung mit unseren Vorfahren ist einer der grundlegendsten Schritte auf dem Weg zu einem Leben in Liebe, Bedeutung und Frieden.
In prämodernen Zeiten war die Ehrung der Ahnen alltäglich. Naturvölker geben ihnen heute noch einen Platz in zahlreichen Riten und beziehen sie in ihr tägliches Alltagsgeschehen mit ein. Ihr Schicksal wird unvergessen gemacht, indem es durch die Weitergabe ihrer Geschichten lebendig gehalten wird. Die Vorstellung ist, dass sie auch nach dem Tode am Leben der Nachfahren teilnehmen und von einem anderen, der geistigen Welt zuzuordnenen Bereich mit uns in Kontakt stehen.
Auch heute machen wir manchmal die Erfahrung, dass uns die Toten in besonderen Momenten sehr nah sind. Dann können wir ihre Präsenz förmlich spüren, während sie uns zugleich einen Eindruck davon geben, dass das Leben mit dem Tod als Übergang nur seine Form verändert.
Die Moderne mitsamt der Aufklärung strich solch geistige Vorstellungen und vor-rationale Praktiken aus ihrem Konzept, schließlich muteten sie in Anbetracht der wissenschaftlichen Weltsicht verrückt an. An ein Leben nach dem Tod glauben nur Mystiker, Esoteriker oder Gläubige und das Schicksal unserer Vorfahren mag zwar hart gewesen sein, hat mit unserem jedoch nichts zu tun. Hier gibt es nichts zu sehen, bitte gehen Sie weiter...
Mittlerweile wissen wir aus der Epigenetik und Traumaforschung, dass es sich rundherum anders verhält:
Dramatische Lebensereignisse, die unsere Urgroß-, Groß- oder Eltern durchgemacht haben wie Krieg, Vertreibung, Gewalt, Missbrauch und Verlust werden über transgenerationale Prozesse an uns weitergegeben.
Unsere Zellen tragen die Spuren ihrer Erlebnisse in uns und führen dazu, dass ihr unbewältigtes Trauma in uns weiterlebt. Die Weitergabe findet so lange statt, bis die Geschehnisse ans Licht kommen - indem wir darüber sprechen oder Verfahren wie die Aufstellungsarbeit nutzen, um ihren Schmerz fühlbar zu machen. Erst, wenn gesehen wird, welches Leid unseren Vorfahren in die Knochen gefahren ist, kann Heilung beginnen und der Fluss des Traumas wird gestoppt.
In unserer Familie bin ich die Erstgeborene und habe mir im Rahmen meiner Aufstellungsausbildung einmal scherzhaft anhören können, dass unsere Ahnen gern bei jenen "anklopfen", die in der Reihe ganz vorne stehen. Auch ohne daraus eine Regel zu machen, gestaltet es sich bei uns so, dass vieles von dem, was meine Vorfahr:innen ungelöst in sich tragen, als irrationale Ängste, dysfunktionale Verhaltensmuster und Schwere bei mir gelandet ist. Mir kommt es oft vor, als würden sie von weit entfernt angestrengt winken, bis ich mich ihrem Schicksal zuwende. Tue ich das und schaue auf das, was sie einst durchgemacht haben, löst sich ihr Schmerz. Plötzlich setzt ein unbändiger Strom an Liebe ein. Jeder Kontakt mit meinen Ahnen erfüllt mich derart mit Güte, Zärtlichkeit und Wärme, dass mein Herz schier platzt. Auf diese Weise fließt ein kraftvoller Strom der Verbindung zwischen uns, dass ich mittlerweile weiß: sie sind da, immer. Selbst, wenn ich nicht an sie denke.
Das führt uns zu Zerstörungskräften, die Gewalt, Missbrauch und Diskriminierung in unserer Gesellschaft verursachen: wenn wir tief auf dem Grund schürfen, finden wir Überbleibsel von kollektivem Trauma, welches unsere Vorfahren erlitten haben. Sei es in den zwei Weltkriegen, in dysfunktionalen Familien oder durch die Erfahrungen in der damaligen DDR: das Leid, welches unsere Ahnen erlebt haben und unerkannt bleibt, schafft heute neuen Schmerz, indem es die Zerstörung wiederholt, die die Gewaltspirale in Gang gesetzt hat. Werden diese Muster nicht erkannt, setzen sie sich fort. Eine Form ist die Musterrepräsentation, in kurz: die Wiederholung alten Verhaltens. Dies bleibt bestehen, bis wir beginnen, ein Licht darauf zu werfen und uns mit Anteilnahme zuzuwenden.
Ich habe in den Jahren der Arbeit mit meinen Ahnen gelernt: die Dinge wollen gesehen werden und ins Bewusstsein kommen. Wir tun sehr gut daran, wahrzunehmen: da ist etwas vorgefallen, was zu Unglück, Leid und Drama geführt hat. Hier halten wir inne, wenden unseren Blick auf das erlittene Schicksal und schenken ihm Achtung; eine würdigende Geste der Berührtheit.
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