Ungesunde Männlichkeit und ihr Potential zur Zerstörung
Männliche und weibliche Energie: beides Qualitäten, von denen wir alle Anteile in uns tragen.
Auf mich selbst geschaut stand lange Zeit die männliche Energie klar im Vordergrund. Die Businesswelt hatte sie zunehmend geschärft, werden doch hier vor allem überbetont männliche Qualitäten bevorzugt. Ein prägnantes Bild ergab sich dazu kürzlich, als ich zusammen mit drei Geschäftsleuten, einer Frau und zwei Männern, in den Öffentlichen unterwegs war: die Frau war in Lautstärke, Geschwindigkeit und Ton perfekt an ihre Kollegen angepasst; schnell, zielsicher und befehlend bellte sie wie die beiden anderen durch den Bus. Mir fiel der Ausdruck "Mann in Hosenrock" ein und ich fand es traurig zu erleben, wie wir Frauen uns verhalten, um in der oft noch durch und durch männlich geprägten Domäne der Wirtschaft mitziehen zu können.
Ich selbst hatte zu meinen Unternehmenszeiten männliche Qualitäten wie Schnelligkeit, bissige Durchsetzungstärke, Zielstrebigkeit und Leistungsdenken gut in mir abgebildet. Mich zu behaupten fiel mir leicht, es spornte mich mitunter an, wenn Konkurrenz Teil des Geschäfts war. Höher, schneller, weiter, jeder ist sich selbst der Nächste - allesamt Auswüchse einer Kultur, die es sich zum Ziel gemacht hat, Fortschritt durch Wettbewerb zu erreichen. Es machte mir Spaß, die Praktiken der "Jungs" zu durchschauen und mitzuspielen. Ich war Teil einer Welt, die ihre Exklusivität durch eigene Begrifflichkeiten, Riten und Sitten zelebriert. Wir alle kennen die Bullshit-Bingo-Werbung von IBM, die ausdrückt, wie es sich anhören kann, wenn die Luft voller Blasen ist...
Bei all dem Tun & Vorwärtskommen fiel mir gar nicht auf, welches konstant hohe Aktivitätsniveau ich fuhr, um vorne mitzuschwimmen. Auch ich hatte meine männlichen Qualitäten bis auf's Äußerste ausgereizt, wie in so vielen gesellschaftlichen Bereichen zu sehen ist: ob in Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft, überall finden wir derzeit eine Überbetonung all dessen, was das Männliche so zerstörerisch werden lässt: seine Härte und Gnadenlosigkeit, seine Unberührbarkeit ebenso wie sein unbändiger Drang nach Schaffen, Erreichen und Tätigsein. Wir sind konstant im Rausch des Machens angekommen, es gibt selten Momente des Innehaltens, der Verlangsamung und des Müßiggangs. Stattdessen muss es vorwärts gehen, Expansion, Eroberung, Wachstum. Auf Teufel komm raus.
Eine Entwicklung, die schon lange solch Extreme angenommen hat, die sie selbst nicht mehr kontrollieren kann: Regenwaldsterben, Überfischung, Chemievergiftungen in Flüssen und Wäldern, Übersäuerung, Erderwärmung, zunehmende Wetterextreme und viele Desaster mehr, die unser rücksichtsloser, distanzierter Umgang mit der Welt hervorgerufen hat.
Wir erleben dies mit allen Dingen: wenn etwas aus dem Gleichgewicht kommt, die Dinge nicht mehr in Balance zueinander sind, haben wir schnell extreme Zustände. So auch mit der Verteilung der männlichen Energie in der Welt. Konzentriert in den stählernen Machtzentren, den Bodenkontakt verloren, reagiert eine vornehmlich männliche Elite.
Was wir stattdessen dringend brauchen ist eine Balance zwischen einer gesunden männlichen und einer gestärkten, selbstbewussten weiblichen Energie. In uns, der Gesellschaft und im globalen Kontext.
Kürzlich ging es um die Verletzlichkeit. Sie gilt als eine der typisch weiblichen Qualitäten. Sich verletzlich und berührbar zeigen, Gefühle zu- und an sich heranlassen werden als Eigenschaften vielmehr den Frauen als den Männern zugesprochen. Traditionelle Überzeugungen wie "Indianer kennen keinen Schmerz" haben ihr Übriges dazugetan, dass sich viele Männer hinter einer Maskerade aus Härte und Unbarmherzigeit verschanzen anstatt ihren weichen, verletzlichen Kern rauszukehren.
Ich las kürzlich dazu, dass wir Frauen ebenso wie die Männer ihre ganz ursprünglichen Qualitäten wieder anerkennen und voll leben müssen. Denn zur Zeit gibt es ein grenzenloses, ungesundes Ausagieren männlicher Qualitäten in unserer Welt. Alles Rationale, Schnelle, der Perfektion Nacheifernde, hat seinen deutlichen Platz in ihr. Wir konzentrieren uns auf das, was messbar und beweisbar ist, wir folgen der Logik in unseren Argumentationen, treffen kühl kalkulierend und durchdacht Entscheidungen und gehen mit aller Härte vor. Dabei lassen wir uns nichts anmerken und bauen eine Panzerschicht um uns auf, die uns weniger spüren lässt. Wir agieren über Angriff, Konfrontation und Verteidigung und sichern unser Hab & Gut. Nachdem Darwin das Feld der Evolutionsbiologie mit der Theorie der natürlichen Auslese und Mutation gründlich bearbeitet hat, befinden wir uns spätestens seitdem auch wissenschaftlich begründbar hinter Grenzlinien, die das Feld zwischen dir und mir abstecken. Kampf, Wettbewerb und Konkurrenz beleben somit angeblich nicht nur das Geschäft, sondern lenken auch maßgeblich die (Miss-)geschicke dieser Welt.
Um dies klar zu stellen: wenn ich über männliche Energie spreche meine ich nicht dieses testosterongesteuerte, zerstörerische Treiben. Männlichkeit ist für mich keine Ausgeburt an ungezügelter, archaischer Kraft, die blind auf ihren eigenen Vorteil schielend alles ausmerzt, was sich ihr in den Weg stellt. Männlichkeit bedeutet nicht, ein möglichst hohes Risiko ungeachtet jeglicher Verluste einzugehen. Sie meint ebenso nicht das knallharte Durchbeißen. Wir haben nicht umsonst allesamt überangespannte Kiefer, die nachts mahlend unsere Zähne zusammendrücken.
Gesunde Männlichkeit heißt kraft- und dabei verantwortungsvoll zu sein. Sich seiner Fürsorge für die Gemeinschaft bewusst zu sein und für diese Rolle und Aufgabe einzustehen. Männliche Energie bedeutet Klarheit und Stärke auszustrahlen und diese im Sinne des Wohles aller einzusetzen. Männlich heißt schützend. Wahre Männer sind die Bewahrer und Verteidiger dessen, was zerbrechlich ist. Dessen, was sich weicher und bedürftiger zeigt, wobei sie ihre Rolle respektvoll und mit aller Achtung zelebrieren. Erst dann kann sich das Weibliche entfalten und das in die Welt bringen, was durch sie geboren werden will.
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