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Über Identität und Wandel - Impulse für unsere zerrissene Gesellschaft

"Identität und Wandlung" hieß letzte Woche das Seminar, welches ich bei Renate Ritter besuchte. Neben dem anregenden Thema war es zudem ein Ort der Vergewisserung - wie sie es einst ausdrückte. Wir alle wollen und müssen uns sogar von Zeit zu Zeit vergewissern - unserer selbst und unseres Handelns. Bin ich noch auf dem richtigen Kurs? Ist das, was ich tue, noch sinnvoll bis hin zu der Frage: wer bin ich inmitten all dieses rasanten, teils unüberblickbaren Wandels?

Ich schätze das Realitätsbewusstsein sehr, welches ich bei ihr jedesmal auf erfrischende Weise erlebe. Unabhängig von der Situation, zuallererst geht es erst einmal darum, anzuerkennen, mit was wir es hier zu tun haben. Mit Blick auf die großen Umbrüchen unserer Zeit war es nur folgerichtig, sich mit den selbsternannten "Reichsbürgern" ebenso wie mit den Grünen und den "Fremden" zu befassen, um deren einzelne Lebensrealitäten genauer kennenzulernen und zu verstehen.


Wir haben es aktuell mit massivem gesellschaftlichem Wandel zu tun und man muss kein/e Expert/in sein, um die Auswirkungen zu sehen und zu deuten. Wir sprachen in diesem Zusammenhang von der Fragmentierung der Gesellschaft und es wird uns mehrheitlich alle betreffen, wenn wir anerkennen, dem zuweilen hilflos ausgeliefert zu sein. Spätestens bei der Frage: laden wir AfD-Vertreter ein oder aus, wenn es sich um gesellschaftliche Themen und Fragestellungen dreht? Wer hat da schon eine einfache Antwort parat?

Was wir im Seminar bei all diesen Themen schnell erkannt haben: es wird nicht einfach, Brücken zu schlagen und die Risse zu kitten. Wir sind derzeit eine zutiefst gespaltene Gesellschaft, in der es lauthals zugeht.


Einige unserer Gräben sind bereits vor mehr als 30 Jahren im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung entstanden. Was damals schnell gehen musste, wirft uns heute auf uns selbst zurück und stellt die Fragen, für die sich zu wenig Zeit genommen wurde: was haben wir zu Zeiten des Getrenntseins erlebt - jede Seite für sich gesprochen? Wie kann ein Zusammenwachsen unter fairen Bedingungen gelingen? Was braucht die eine, was die andere Seite? Es gab und gibt auch heute unterschiedliche Wahrnehmungen, unterschiedliche Erzählungen über das, was im Osten und das, was im Westen geschah. Beide Perspektiven gleichermaßen zuzulassen wäre ein wichtiger Schritt zu einer Identität, die vielen auf dem Weg bis heute verloren ging.

Beachtenswert waren zudem die existentiellen Nöte, die die sogenannten "Reichsbürger" als auch die Gruppe der "Fremden" teilten. Das Gefühl für beide war dasselbe: Bodenlosigkeit. Wenn alles drumherum in der Auflösung begriffen ist und es zugleich keine Sicherheiten für die Zukunft gibt, taumeln wir in den Abgrund. Dies wird als derart bedrohlich empfunden, dass wir zunehmend radikaler in unserem Handeln werden.

Die Bodenlosigkeit erklärt sich daher, dass für viele von uns der Gedanke nicht mehr funktioniert, unsere Kinder würden es einmal besser haben werden als wir - und dies nicht nur vor dem Hintergrund der Klimakrise, die in vollem Gange ist. Die Vorstellung von einem geregelten Leben in zu- statt abnehmendem Wohlstand hat sich lange gehalten und wird heute aus ihren Fugen gesprengt. Es geht nicht einfach linear so weiter wie bisher. Sehr zum Erschrecken vieler.

Doch was machen wir jetzt damit? Wie kann es weitergehen mit all diesen Ängsten, unterschiedlichen Lebensverläufen und Erwartungen? Das anfängliche "Wir schaffen das" ist zur Frustration vieler geworden statt uns zu motivieren - bei aller humanen Absicht dahinter.


Wir stehen vor der Herausforderung, uns mit der beinharten Realität zu konfrontieren: es ist ein harter Brocken, neben den gekommenen Migranten die bereits bestehenden sozialen und wirtschaftlichen Probleme dieses Landes zu bewältigen. Viele stehen am Abseits oder fühlen sich so. Das darf nicht, kann nicht ignoriert werden. Es braucht vielmehr ein Anerkennen, Würdigen und genügend Raum, alle von uns auf eine Weise zu Wort kommen zu lassen, dass jede Stimme zählt. Ganz ohne Anfeindungen, Zuschreibungen, Unterbrechungen oder Beschwichtigungen. Es braucht Gesprächsräume, in denen sich wieder zugehört wird. In denen wir einander unsere unterschiedlichen Geschichten erzählen können.

Ich habe noch keine Ahnung, wie diese Räume und Orte entstehen können. Aber sie wären ein Anfang - ein wichtiger.

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