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  • Caroline Winning

"Die Jugend von heute" und unser unverarbeiteter Trennungsschmerz

Heute morgen im Wasser: ein Trupp Jugendlicher stieß zu uns Badenden dazu. Sofort füllte sich der Platz mit Lautstärke und Energie. Nach einer kleinen Weile verließ ich das kühle Nass, ging auf eine Bank zu, die einigen von uns Badegästen als Ablage diente und griff mir mein Handtuch. Spontan klang es hinter mir: "Ey, die nimmt sich mein Handtuch!" Einer der Jungen hatte den Satz gerufen, nachdem ich das blaue neben dem zweiten blauen gegriffen hatte. Schnell wurde klar, dass er sich einen Spaß erlaubte - ihm war wohl aufgefallen, dass sein Handtuch weiterhin unangetastet neben mir lag. Ich musste schmunzeln, er hatte Talent darin, die Geschichte dadurch am Leben zu erhalten, indem er seinen Satz noch einige Male wiederholte. Als ich plötzlich aufstand und ging, witzelte er ein weiteres Mal, ich hätte sein Handtuch. Mir gefiel sein trockener Humor und ich nahm die Gelegenheit zum Anlass darüber nachzudenken, wie ich stattdessen hätte reagieren können: nämlich empört! Wie könne er so etwas behaupten, es ist ja regelrecht beschämend, mir solch eine Untat zu unterstellen! Was sollen denn da die anderen denken!

Heute Morgen hatte es mich jedoch zu Heiterkeit veranlasst und ich war froh, dem Jux der Jugend keine ernsthaftere Bedeutung beigemessen zu haben. Mir kam das Buch "Tyll" in den Sinn, das ich kürzlich gelesen hatte. Tyll Eulenspiegel als Paradebeispiel des Narren, welcher ungestraft das ausspricht, was anrüchig, beschämend oder gar verboten ist. Der Schalk, der frotzelnd den ungeliebten Spiegel vorhält, ungeachtet aller Befindlichkeiten.

Eine, wie ich fand, herrliche Analogie auf unsere Zeit. Wie schnell sind wir gekränkt auf dem Baum, wenn wir den Eindruck haben, wir würden nicht ernst genommen. Ernst genommen und gesehen werden, Wertschätzung und Anerkennung erfahren, allesamt Mangelware, wie anhand mancher Reaktion immer wieder deutlich wird.

Der Spiegel der Jugend

Es findet sich ein tiefer Hunger in den Rissen unserer Gesellschaft und zwar nach eben jenen Bedürfnissen, die uns erlauben, uns zugehörig zu fühlen. Ein Hunger, der uns antreibt, nach Bestätigung, Kontakt und Verbindung zu suchen - selbst beim Narren, wo die Kränkung nur noch sichtbarer wird.

Wenn wir nach Ursachen für diese ungestillte Sehnsucht fahnden, gelangen wir schnell zu Trennungserfahrungen. Im Großen wie durch die zwei Weltkriege, deren Trauma wir noch immer in uns tragen, sowie durch das Zusammenbrechen Ostdeutschlands und der schmerzlichen Wendeezeit danach; im Kleinen durch die frühe Trennung von Mutter und Vater, wie sie noch heute in den Relikten bindungsgestörter Erziehungspraktiken weiterlebt.

Solch verzweifelte Verluste und Kontaktabbrüche wurden bei vielen in unserer Gesellschaft nicht verschmerzt. Sie wirken nach - in unseren Zellen, unserem Gedächtnis und unserem Herzen. Daran erinnert uns auch der Narr - die Figur des Dramas, die es sich erlaubt, den Finger immer wieder neu in die Wunde zu legen - bis eines schönen Tages nicht mehr das Gefühl anspringt, man hätte etwas falsch gemacht, sondern nur heiteres Glucksen dank der dreisten Drolligkeit der spottfrechen Jugend.


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