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Hingeschaut: was wirklich hinter der Ablehnung von Fakten steckt. Eine psychologische Analyse.

Wir erleben derzeit viel aufgeheizte Stimmung. Sie setzt sich zusammen aus Misstrauen gegenüber den Meldungen aus der Presse, Wut auf "die da oben", Befürchtungen über Einschränkungen unserer Persönlichkeitsrechte sowie die Suche nach Schuldigen.

Wo anfangs noch Solidarität und breite Unterstützung waren, bröckeln diese langsam und machen Platz für größer werdende Ungläubigkeit gegenüber  dem, was Regierungen und Wissenschaftler vermitteln.


Das Beunruhigende daran: das Misstrauen zieht sich quer durch alle Bevölkerungskreise. Wir finden es bei AfD-Anhängern ebenso wie bei klugen Köpfen, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen und plötzlich die Corona-Maßnahmen mitsamt der aktuellen Datenlage in Zweifel ziehen. Diese Entwicklung führt zu Besorgnis. Auch wenn ich unsere derzeitige Gesellschaft für aufgeklärter, wacher und diverser halte als vor rund 80 Jahren zu Beginn des 2. Weltkriegs, beunruhigt mich das aufkommende trennende Denken.


Plötzlich fühlen sich Menschen im Ungewissen gehalten, gezwungen oder manipuliert, die bisher fit und fähig waren, mit Vernunft und kühlem Sachverstand auf die aktuelle Lage zu blicken. Ihr Denken wie Sprache gleiten ab in ein "Wir gegen Die" und verstärken so den Boden ausgrenzender, verachtender Haltungen, die uns zunehmender Rechtsradikalismus und nationalistischer Populismus seit Langem bescheren.

Sicher sind gesunder Zweifel wie Skepsis gegenüber Regierungsmaßnahmen und deren Ausführenden weder neu, noch unangebracht. Einen kritischen Blick zu bewahren hilft uns, souverän in der eigenen Meinungsbildung zu bleiben. Kluge Besonnenheit und vernunftbasierte Ratio machen uns überhaupt erst zu der modernen Gesellschaft, die uns Gleichberechtigung, Würde des Einzelnen sowie individuelle Freiheit ermöglicht haben.


Dennoch sollten wir uns die Frage stellen, was die Gründe für die zunehmende Abwehr und Ungläubigkeit sind. Nur dann können wir wirksam werden und die sich hoch peitschende Dynamik bei der Wurzel packen. Um diese zu finden und das Phänomen umfassend zu verstehen, müssen wir tief graben. Die Suche nach Erklärungen nimmt ihren Anfang bei einem typischen Symptom aller Krisen - so auch dieser: je länger die Dinge ungemütlich bleiben, desto größer werden Stress und Widerstand. Zumindest dann, wenn man sich bisher wenig mit seinen Schattenthemen auseinandergesetzt hat. 



Schattenthemen - was sind das? 


Jeder von uns hat als Kind und Jugendliche/r Verletzungen der Psyche erlitten. Das war schwer vermeidlich und hat sowohl individuelle als auch kollektive Gründe. Individuell betrachtet landen wir bei näherem Hinschauen schnell bei unseren Eltern. Sie haben uns nach ihren Möglichkeiten groß gezogen. Oftmals waren sie dabei jedoch begrenzt in ihren Fähigkeiten, uns die Aufmerksamkeit, Geborgenheit, Geduld und Empathie zu schenken, die wir gebraucht hätten. Statt Klarheit und liebevolle Präsenz in stressigen Momenten gab und gibt es auch heute noch Schimpfe, Abwertung oder strenge Disziplin. 


Diese Form von Erziehung führt zu einem Bruch in der Verbindung, die Kindern Halt und Sicherheit gibt. Diesen Bruch erleben wir in jungen Jahren als unglaublich schmerzhaft. Wenn der Kontakt abbricht, fallen wir aus unserem Selbstverständnis und beginnen zu glauben, dass wir so wie wir sind, nicht richtig sind. Sowohl der Schmerz als auch das aufkommende Schuldbewusstsein können wir als Kinder und Jugendliche nicht angemessen händeln. Wir besitzen noch keine ausreichend adäquaten Strategien, um mit Zurückweisung oder Verurteilung umzugehen.

Als Resultat drücken wir die dabei erlebten schmerzhaften Gefühle weg. Damit landen sie im Untergrund unserer Psyche und bilden so unseren Schatten, der die Summe all unserer Verletzungen und verdrängten Persönlichkeitsanteile ist. Er ist umso größer, je mehr "Leichen im Keller", sprich unterdrückte Gefühle und unaufgearbeitete Erfahrungen wir im Laufe unserer Kindheits- und Jugendjahre angesammelt haben. 

Das Tückische an ihm ist: unser Schatten führt ein Eigenleben und meldet sich immer dann, wenn wir an damalige Erfahrungen von Wut, Ohnmacht, Verzweiflung, Trauer und Unsicherheit erinnert werden. Dazu reicht schon eine Nachricht in Krisenzeiten wie die, dass Kitas geschlossen bleiben, uns in Ohnmachtsgefühle zu stürzen, die unseren Schatten aktivieren. Den meisten von uns ist jedoch nicht bewusst, dass sich in solchen Momenten verletzte und verdrängte Persönlichkeitsanteile zurückmelden. Das ist fatal, denn wir Menschen sind daran interessiert, die Welt und das, was uns passiert, zu erklären. Zu wissen gibt uns Halt. Hintergründe und Umstände, kurzum das Warum zu verstehen, beruhigt uns und wiegt uns in Sicherheit. Egal, ob die Erklärungen am Ende richtig oder falsch sind. 


Wie die innere Verdrängung zur äußerem Widerstand führt


Unsere Reaktionen in Anbetracht der aktuellen Krise erkennen wir somit nicht als das, was sie eigentlich sind: der eigene Schatten, der hoch kommt, sobald Ereignisse geschehen, die uns an die damaligen, schmerzhaften Erfahrungen erinnern. Dabei gilt: je intensiver die Krise und ihre Auswirkungen, desto mehr individueller Schatten wird aktiviert. 

Die Herausforderung besteht darin, den eigenen Schatten als solchen wahrzunehmen. Wenn wir das nicht tun, besteht die Gefahr, ihn auf die Außenwelt zu projizieren und überall dort Dämonen lauern zu sehen, wo unsere kindlichen, verdrängten Gefühle wie Angst, Trauer, Wut oder Ohnmacht auftreten. Anstatt ihnen jedoch zu begegnen, bekämpfen wir das, was wir als Eingriffe in unsere Persönlichkeitsrechte ansehen.

Dies wird vor allem dann problematisch, wenn wir uns auf der Suche nach Orientierung vorschnell bei Antworten aus dem Feld der Verschwörungstheorien bedienen. Psychologisch gesehen mildert das, was wir dort vorfinden unseren kindlichen Schmerz. Deren vermeintliche Wahrheiten suggerieren uns eine Sicherheit, die davon ablenkt, die durch die Krise aufkommenden Emotionen zu fühlen. Stattdessen liefern uns deren krude Ansichten die Möglichkeit, unseren Schatten weiter zu verdrängen, indem wir ihn nach Außen verlagern. Jetzt finden wir dort die Feinde, die eigentlich unser Innerstes bewohnen.Bill Gates, die Bundesregierung und allen voran Angela Merkel werden so zur Projektionsfläche unserer eigenen Dämonen. Den Krieg, den wir bisher gegen uns selbst geführt haben, führen wir nun gegen Gegner im Außen.


Wie beenden wir den Kampf gegen unseren Schatten?


Der erste Schritt besteht darin wahrzunehmen, wenn Gedanken in dir auftauchen, manipuliert oder für dumm verkauft zu werden. Mach dir in solchem Moment bewusst: hier meldet sich ein Schatten in dir. Wenn du aufmerksam bleibst, wirst du spüren, dass gleichzeitig Gefühle in dir hochkommen. Weichst du ihnen nicht aus, erkennst du vielleicht, welcher verletzte Teil sich dir zeigen will. Es kann unterstützen, sich zu fragen: woran erinnert mich das? So kommst du Situationen auf die Spur, in denen du dich als Kind oder Jugendliche/r ängstlich, wütend, enttäuscht oder verloren gefühlt hast.

Bleib im Kontakt mit deinem Gefühl. Damals war es unaushaltbar, heute bist du erwachsen, ausgestattet mit zahlreichen Ressourcen und Stärken, die es dir ermöglichen, der schmerzhaften Erinnerung entgegen zu blicken. Mach dir bewusst, dass sich kindliche Anteile in dir melden und du heute nicht mehr so alt bist wie damals, als du elterliche Unterstützung gebraucht hättest. Diese Trennung in früher und heute ist ungeheuer hilfreich, wenn wir uns zu einer reifen, integren und weisen Persönlichkeit entwickeln wollen. 


Innerer Frieden als Wegweiser für herzenskluges Handeln


Die Integration unseres Schatten radiert Geschehenes von damals nicht aus. Sie führt jedoch dazu, dass wir den Schmerz und die Abwertung, die wir einst erfahren haben, nicht weitergeben - mit allen fatalen Folgen, die Ängste schon immer produziert haben.

Wenn wir es schaffen, alte, belastende Erinnerungen und die Gefühle, die sie in uns auslösen, anzunehmen anstatt ihnen aus dem Weg zu gehen, kommt etwas in uns zur Ruhe. Dinge, über die wir uns bis vor Kurzem noch tierisch aufgeregt haben, stören uns nun nicht mehr. Ein ausgeglicheneres Gemüt ist die Folge. Der innere Krieg hört auf und mit ihm die Gefahr, die Umgebung als Projektionsfläche eigener Ängste zu nutzen.

Damit halten wir den Schlüssel in der Hand, uns weniger von alten, belastenden Emotionen statt besonnener Ratio leiten zu lassen. Mit Hilfe dieser gelingt es uns vielleicht besser, der aktuellen Lage ihre Bedrohlichkeit zu nehmen und stattdessen zu überlegen, welchen nächsten hilfreichen Schritt wir machen können. So entsteht aus Ohnmacht Handlungsfähigkeit und aus Angst pragmatische Umsicht.


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