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Sechs zukunftsweisende Fähigkeiten, die uns Corona jetzt lehrt

Wir alle werden gerade ordentlich gefordert. Wir sollen unsere gewohnten Verhaltensmuster aussetzen, ganze Lebensbereiche auf ein Minimum runterfahren, tagtäglich neue Zahlen, Daten, Fakten verarbeiten und uns auf sich ständig ändernde Regeln wie Kontaktsperren oder Mundschutzpflicht einstellen.


Dazu kommt: alles, was für die kommenden Wochen und Monate geplant war, ist innerhalb kürzester Zeit der grassierenden Pandemie zum Opfer gefallen. Das Leben hat den Instant-Modus eingestellt. Wir leben von Tag zu Tag, die Politik fährt ihre Strategie „auf Sicht“, dazwischen drängen sich Sorgen, Nöte und Ängste.


Ein neuartiger Virus ist aufgetaucht und mit ihm ein Bruch mit allem, was wir bisher für selbstverständlich gehalten haben. Stattdessen großangelegte Aufrufe der Solidarität mit all jenen, die besonders intensiv vom Virus betroffen sind, Appelle an die Vernunft und eine unbändige Flut an kreativen Angeboten, die Zeit des Lockdowns sinnvoll, unterstützend und transformativ zu nutzen.


Bei aller Tragik und Entsetzen, welche durch die rasant steigenden Todeszahlen in Ländern wie Spanien oder den USA ausgelöst werden, hält die Corona-Krise ein enormes Potential bereit. Sie lehrt uns - individuell wie kollektiv - genau jene Kompetenzen, ohne die wir zukünftig nicht mehr auskommen, wollen wir unsere Erde und uns als ihre Bewohner langfristig schützend erhalten.


Doch wie werden wir zukunftsweise?

So drastisch wie wahr formuliert es Nafeez Ahmed, Journalist und Systemtheoretiker, wenn er schreibt: schaffen wir es jetzt nicht, uns Qualitäten und Kompetenzen wie Kooperationsfähigkeit, Mitgefühl, Weisheit und Großherzigkeit anzueignen, werden wir als Besatzung des Schiffs Erde untergehen.

Dem pflichte ich bei. Die Menschheit hat sich bis an den Rand ihres eigenen Abgrunds bewegt. Sozialer Raubbau an den Ärmsten, Plünderung endlicher Ressourcen, nachhaltige Umweltzerstörung bis hin zum tödlichen Klimawandel zeigen: so geht es nicht weiter. Schon lange nicht mehr.

Wir brauchen neue Lebens- und Arbeitsmodelle sowie Verhaltensweisen, die es uns ermöglichen, lebensdienliche, ökologisch verträgliche und gerechte gesellschaftliche Strukturen zu schaffen.


Was mir in meiner persönlichen Entwicklung im Laufe der Jahre bewusst geworden ist: wir erreichen dieses Ziel nur, indem wir uns selbst verändern. Das ist die vielleicht härteste Lektion: ohne einen massiven Bewusstseinswandel beim Einzelnen wie gesellschaftlich reißen wir das Ruder nicht mehr herum.


Dieser Bewusstseinswandel geht einher mit einem Zuwachs an Fähigkeiten, die wir Menschen uns oft erst in Zeiten von Krisen zulegen:

Auch wenn das Maß des Kompetenzzuwachses bei jeder/jedem unterschiedlich sein wird: unsere kollektive Entwicklung geht bereits in diese Richtung. Dank unseres globalen Dorfes erleben wir bereits, wie unsere Sicht auf die Welt weiter, umfassender und verständiger wird. Sei es durch Reisen, Bücher, Dokumentationen oder Erzählungen: wir alle öffnen uns fremden Kulturen, Orten und Menschen quasi nebenbei. Welch ein Glück! So besteht Hoffnung zu lernen, was zukünftig dringend gebraucht wird:


I. Die Fähigkeit, sich anzupassen und für das Gegebene zu öffnen


Corona zwingt uns: aktuell ist höchste Flexibilität im Sinne von Anpassungsfähigkeit gefragt. Wir sind kontinuierlich dazu angehalten, uns neu zu orientieren und mit dem Bestehenden umzugehen. Nichts, was heute noch gilt, hat auch Morgen noch seinen Bestand. Alles verändert sich in einer Geschwindigkeit, die uns bis vor Kurzem noch ganz schwindelig gemacht hätte. Jetzt leben wir nach der Devise: so ist es. Um im nächsten Moment wieder völlig anders zu sein.


Höchste Adaptabilität und Flexibilität sind die neuen Lernfelder für unsere Gesellschaft - für jeden Einzelnen wie für uns alle gemeinsam.


Es gilt vor allem, sich auf das zu konzentrieren, was im Hier & Jetzt geschieht und möglich ist. Eine der größten Aufgaben und zugleich Chancen für uns. Ich habe gelernt: mein Kopf verabscheut diesen Zustand. Er, der es gewohnt ist, zu kontrollieren, zu verstehen und voraus zu denken, wird damit konfrontiert, weder besonders viel wissen noch langfristig planen zu können.

Niemand weiß, wie lange der derzeitige Zustand noch andauert. Keiner kann absehen, ob und wann die strengen Maßnahmen von Kontaktsperren und Isolierung ihre Wirkung zeigen. Dabei würden wir gern wissen, wann ein Aufatmen möglich sein wird. Als kopfgesteuerte, kontrollierende Wesen vertragen wir es schlecht, im Nebel darüber zu verharren, wie es weiter geht. 


Die aktuelle Krise zeigt uns: so, wie wir immer gedacht haben, ist das Leben ganz und gar nicht planbar. Wir alle haben Vorstellungen darüber, wie etwas zu sein hat. Jetzt merken wir mehr denn je: nichts davon taugt zur Zeit. Stattdessen müssen wir lernen, Wellen zu reiten. Uns auf das Hier & Jetzt einzulassen. Auf das, was geht statt dem, wie wir es uns vorstellen.


Zukünftig wird diese Fähigkeit gefragter denn je. In unserer volatilen, fragilen Welt wird es vermehrt darauf ankommen, sich den Gegebenheiten des Momentes anzupassen und direkt aus ihm zu schöpfen: Was ist jetzt wesentlich?Was will der konkrete Augenblick von mir? Immer wieder neu, Situation für Situation.


II. Die Fähigkeit, Mitgefühl mit allen lebenden Kreaturen zu haben


Mitgefühl entwickeln wir bereits in jungen Vorschuljahren. In diesem Stadium bezieht sie sich jedoch ausschließlich auf die eigene Gruppe: die Familie, den Freundeskreis, den Verein etc. Erst mit steigenden Erfahrungen, Neugier am Fremden, Lebenslust und Aufgeschlossenheit erweitert sich unsere Empathie zunehmend auf alle Menschen. Jetzt sollen die geltenden Rechte nicht nur für bestimmte Gruppen, sondern für alle Gesellschaftsschichten Wirkung haben.

Zeiten wie diese sorgen dafür, dass der solidarische Mantel weltweit gespannt wird. Es steigt die Achtsamkeit auch für jene, die der Alltag sonst schluckt. Nachbarn, Obdachlose, Senioren in der Nachbarschaft, Kranke - sie alle erhalten unser Mitgefühl, unsere Hilfsbereitschaft und Tatkraft. Ob es der Einkauf für die alte Dame im Haus ist oder das gemeinsame Balkonsingen, unsere Gedanken kreisen nicht einzig und allein um uns selbst oder unsere Gruppe. Noch nie waren Länder wie China oder Italien näher als jetzt, wo wir erleben, welches Schicksal die Menschen dort trifft. Die Empathie dehnt sich aus, über Länder- und Kontinentgrenzen hinweg. 


Globale Empathie schaut noch weiter und fühlt mit allen lebenden Wesen wie Tieren, Pflanzen und somit der gesamten Biosphäre. Sie reiht sich ein als eine in uns schlummernde Fähigkeit, die jetzt wach wird. Uns berühren die klaren Kanäle in Venedig, die ans Ufer kommenden Delfine, die aufatmende Natur, der Beruhigung unserer Erde. Dank globaler Krise lassen wir uns bewegen vom Schicksal unseres Planeten. Die Bilder gehen ins Herz, öffnen es weit und formen darin einen fast kategorischen Imperativ, die Gesundung von Menschheit wie Natur auch nach Corona aktiv voranzutreiben.


III.  Die Fähigkeit, kooperativ und gemeinschaftlich zu agieren


Es geht nur zusammen. Auch wenn uns Hamsterkäufe das Leben schwer machen: würden wir uns als Gesellschaft ignorant voneinander abwenden anstatt gemeinschaftlich anzupacken, stünde das Fundament unseres Zusammenhalts dauerhaft auf wackligem Boden. Faktisch hätten wir vor 50.000 Jahren in der Steppe so nicht überlebt.


Der Mensch ist zutiefst sozial. Begonnen mit der tiefsten Verbindung im Mutterleib, hält das Bedürfnis nach Nähe, Kontakt und Liebe ein Leben lang an. Wir sind bereits als Kleinkinder daran interessiert beizutragen, was zahlreiche Studien eindrucksvoll belegen. Kooperation ist unser täglich Brot. Vielleicht haben wir auf unserem Lebensweg negative Erfahrungen eingesammelt, die uns haben misstrauisch und zurückhaltend werden lassen. Das täuscht jedoch nicht darüber hinweg, dass wir ohne Gemeinschaft - Familie, Freunde, Kollegen, Nachbarn - psychisch und sozial verhungern.


Diese Kompetenz gilt es aufrecht zu erhalten und zu nähren. Wie wir an den vielen regionalen wie weltumspannenden Initiativen und Projekten rund um das Virus erleben, sind wir jetzt mehr denn je aufeinander angewiesen. Mehr noch: nur in Verbindung mit kollektiver Intelligenz und uneigennütziger Kollaboration schaffen wir es erhobenen Hauptes durch die derzeitige Krise. Wie durch jede andere Krise auch.


Kollektive Intelligenz meint das Anzapfen all der uns zur Verfügung stehenden Fähigkeiten, sowie Wissens- und Weisheitsschätze. Was bringt die/der Einzelne mit, was wir gemeinsam gut gebrauchen können, um Lösungen für die anliegenden Probleme zu finden?

Um sie bestmöglich nutzen zu können, ist der Verzicht auf Ego und Machthierarchien gefragt. Jetzt braucht es kompetenzbasierte, situative Ansätze von Leitung. Ein generatives Öffnen demgegenüber, was jetzt entstehen möchte statt dem, was der/die Einzelne erreichen will. Dies geht einher damit, sich selbst nicht zu wichtig zu nehmen. Nichts will durch dich entstehen, alles will durch dich entstehen.


IV. Die Fähigkeit, mit Nichtwissen, Ambiguität und Vernetztheit umzugehen


Wir hatten es schon: was wir wissen ist, dass wir nichts wissen. Oder so gut wie nichts. Wo uns einst das Rationale, die Fakten halfen, uns in der Welt zu orientieren, müssen wir nunmehr den Aussagen von Virologen Glauben schenken, die selber sagen, dass sie mit Erkenntnissen zu Corona noch ganz am Anfang stehen.

Es ist ein bisschen so, als hätte jemand gesagt, die Welt sei rund, obwohl alle bisher davon überzeugt waren, sie sei flach. Plötzlich müssen wir uns radikal umstellen. Was kann man dabei glauben, was ernsthaft wissen? Wem ist zu vertrauen? Wo findet man Quellen, die überzeugend Tatsachen schaffen?  Es mangelt nicht an Informationen. Nur soviel ist sicher: nicht alles davon ist glaubwürdig.

Solange wir uns in diesem Findungsprozess bewegen, will der Umgang mit Nichtwissen gelernt sein. Die Fähigkeit, sich auch im Dunkeln zurecht zu finden und dabei trotzdem beweglich zu bleiben. Für jeden Schritt nach vorn wieder einen zurück machen zu können. Widersprüchlichkeit im Kopf auszuhalten.


Dies sind allesamt Kompetenzen, die erst dann gelernt werden, wenn wir die Erfahrungen machen, mehr als ein kopfgesteuertes Wesen zu sein. Halt und Orientierung im Nebel finden sich im bewussten Wahrnehmen dessen, was in und um mir herum passiert. Präsenz sowie Stille und Achtsamkeit ebnen den Pfad in eine neuartige Sicherheit - eine Sicherheit durch das Erspüren des Momentes. Er zeigt mir genau, was gerade zu tun oder zu lassen ist: beobachten, pausieren, fühlen, kreativ sein, handeln, aktiv werden, planen oder einfach da sein.


V. Die Fähigkeit, weise und nachhaltig über Generationen hinweg zu denken


Die politischen Lösungen, die jetzt geliefert werden, sollen schnell und ad hoc Hilfe bereit stellen. Das ist unbestritten. Gleichzeitig brauchen wir ein Denken, welches über die nächsten Wochen, Monate, Wahlperioden und Jahrzehnte hinaus reicht. Ein systemischer Blick, der die komplexen Wechselwirkungen des Geschehens in Betracht nimmt. Wir brauchen interdisziplinäres Vorgehen anstatt uns auf diejenigen zu konzentrieren, die am deutlichsten Alarm schlagen.

Es braucht den Blick der Ausgewogenheit, die Fähigkeit, innere Ruhe aufzubauen, Umsicht, Weitblick und eine integrale Perspektive, die soviele Faktoren wie möglich betrachtet. Allesamt Qualitäten, die ein gerüttelt Maß an Lebensweisheit mit sich bringt.

Wenn ich sie näher definieren will, kommen mir Aspekte in den Sinn wie: ein tiefblickendes Verständnis von Zusammenhängen, der Standpunkt einer höheren Wirklichkeit, die derart integriert und einschließt, dass alle Perspektiven gewürdigt werden. Dazu gesellt sich eine innere Weite, die zulässt, dass all unser menschliches Sein in uns Platz und Güte finden.


Derartige Weisheit entwickelt sich über ein Leben hinweg. Ein Trugschluss wäre jedoch zu glauben: nur, weil ich Jahresringe angesammelt habe, bin ich unter die Weisen geraten. Dies würde ignorieren, dass sich Weisheit allein durch den Zuwachs an äußeren Kompetenzen speist. Mir hat das Leben gezeigt: vor allem die innere Arbeit macht es möglich, innere Weite, perspektivischen Überblick, Toleranz, Großherzigkeit und Verständnis zu entwickeln.


Sie bietet gleichsam die Grundlage, uns auf ein Handeln zu besinnen, dass weniger die eigene Stellung oder Gruppe bevorzugt, sondern wirklich nachhaltig zu denken, um Lösungen für all jene bereit zu halten, die das Morgen erst noch erblicken werden.


VI. Die Fähigkeit, tief vertrauen zu können


Wenn ich in tiefem Vertrauen angekommen bin, bin ich schon weit auf meiner Lebensreise fortgeschritten. Tiefes Vertrauen bezieht seine Gültigkeit aus der Erkenntnis, dass ich Teil des großen Ozeans der Evolution bin. Ich schwimme mit im Strom unendlichen Werdens und Vergehens. Die Kraft, die alles schafft, ist dabei so naheliegend wie naiv vermantelt: die Liebe.


Wenn ich mir ansehe, zu was wir Menschen im Guten fähig sind und wie Toleranz, Inklusion und Akzeptanz über die Jahrhunderte und Jahrtausende kollektiv gewachsen sind, wird offensichtlich, wohin alle Entwicklung letztendlich strebt: hin zu immer mehr Bewusstheit, Achtsamkeit, Liebe. Diese Erkenntnis lässt sich nicht allzu leicht vermitteln, wenn wir um der noch immer herrschenden Gewalt, Unterdrückung und Ignoranz auf Erden wissen.

Dennoch verzeichnen wir von all dem weitaus weniger als bspw. noch vor 500 oder 1.000 Jahren, wie Steve Pinker, Ken Wilber oder Hans Rosling detailliert belegt haben. Die Menschheit wird insgesamt liebevoller, wenn wir den großen Zeitstrahl anlegen. Humaner, gerechter und friedlicher. Mit allen dazu gehörigen Vor und Zurücks lässt das die Frage nach dem Warum aufkommen. Wieso entwickeln wir uns zu einer herzenswachen Spezies? Was legt diese unumstößliche Richtung fest?


Es ist dieselbe Kraft, die uns tiefste Freude empfinden lässt sowie unsäglichen Schmerz, die uns in Hingabe verschenken, der Welt ihr Lächeln abgewinnen, die uns unermüdlich weiter gehen lässt - trotz schwerster Tiefschläge. Die Kraft, die uns kostbarste Momente von Gnade, Güte und purer Glückseligkeit gewährt. Sie war, ist und bleibt Motor aller Entwicklung, auch wenn wir sie manchmal nicht spüren: die Liebe.


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