top of page
  • Caroline Winning

Wenn wir in Konflikten das Gefühl haben, nicht gesehen zu werden

Zwiebelschicht für Zwiebelschicht lösend reisen wir durch dieses Leben. Der letzte Häutungsprozess wurde angestoßen durch ein Streitgespräch mit meinem Partner. Irgend etwas in mir drängte beharrlich darauf, ihm klarzumachen, wie sehr ich getroffen war und mich nicht gesehen fühlte. Aussagen wie "ich will wahrgenommen werden" höre ich öfter, in zahlreichen Kontexten wie auch in Seminaren zur Gewaltfreien Kommunikation, wenn es darum geht, die eigenen Bedürfnisse zu erkunden. Wertschätzung, Anerkennung und der Wunsch danach, ernst genommen zu werden, sind die Spitzenreiter, wenn es um zwischenmenschliche Konflikte geht. In ähnlicher Weise kämpfte auch etwas in mir darum, mit genau dem wahrgenommen zu werden, was ich gerade in unserem Streit erlebte.


Natürlich ging ich leer aus und spürte zugleich, dass eine unstillbare Sehnsucht in mir existiert, die mir mein Gegenüber möglicherweise gar nicht erfüllen kann. In solchen Momenten nehme ich mir Zeit für eine Selbsteinfühlung. Der innere Teil, der hier angesprungen war, fühlte sich deutlich jünger an als mein heutiges biologisches Ich. Ich wendete mich also meinem inneren Kind zu und begab mich auf Spurensuche zu den Gefühlen und Bedürfnissen der Kleinen. Diese innere Reise brachte Wesentliches hervor. Ich nahm wahr, wie sich vor allem ein übergroßes, unendliches Gefühl des Alleinseins einstellte. Dazu tauchte das Bedürfnis nach Interesse und Aufmerksamkeit auf. Vor meinem inneren Auge sah ich die Kleine mit überschwenglicher Begeisterung für dieses Leben, welche ihren Ausdruck im Spielen fand, und niemanden in diesem Bild, der das mit ihr teilte. Es war zugleich beeindruckend nachzuempfinden, welch unbändige Neugier, Faszination und Lebenslust in kleinen Kindern und Babies steckt, wenn sie beginnen, die Welt zu entdecken. Und nicht nur das: auch die eigene Reichheit, die mitgebrachten Gaben, Potentiale und der unermessliche Schatz, der in jede/r von uns liegt, breitete sich vor mir aus und war bereit, mit Freuden willkommen geheißen zu werden! Es war die pure Lebensfülle, die mir begegnete. Ein Zauber ohnegleichen. Der gesehen und bekräftigt werden wollte und dies bis heute ersehnt hat.

Martin Buber sprach davon, wie das Ich am Du zum Ich wird. In der Resonanz mit anderen erfahren wir uns selbst. Wir erleben, was es heißt, in den Augen der Welt bedeutsam zu sein, sich willkommen und richtig zu fühlen. Mehr noch: das, was wir an Einzigartigkeit auf diese Welt mitbringen, wird erkannt und bejaht. Es ist, als würde das Funkeln in jedem neuen Menschen als Ausdruck purer evolutionärer Schaffensfreude bezeugt. Das Staunen über die Schöpfung selbst.

Im Schreiben denke ich an viele Menschen und Situationen, in denen diese Sehnsucht danach, wirklich gesehen zu werden, existiert. Vermutlich tragen wir sie alle zu einem gewissen Grad in uns in dem Wissen, wie wenig Bewusstsein über die Bedürfnisse von Kindern in ihren ersten Lebensjahren vor einigen Jahrzehnten vorhanden war und teilweise noch heute ist. Babies wurden direkt nach der Geburt ihren Müttern und Vätern abgenommen, im verletzlichen Alter von wenigen Wochen in die Krippe gegeben, nach der Stechuhr gestillt und ähnlich Deprivierendes mehr. Umgangsweisen, die dazu führen, dass der Lebensgeist und das Urvertrauen von Kindern gestutzt und erschüttert werden. Aus diesem Erleben entwickelt sich ein tiefes Gefühl von Einsamkeit und Bedeutungslosigkeit. Wir erfahren existentielle Verunsicherung, ob wir so, wie wir ins Leben gekommen sind, auch willkommen sind. Frei von jeglichen Erwartungen, voller Zuwendung und bedingungsfreier Annahme. Die Grundzutaten, um zu einem selbstsicheren Mensch heranzureifen.

Diese Angst verbleibt in unserem Körper-Geist-System und führt im Erwachsenenalter dazu, dass wir unbewusst danach trachten, endlich die Anerkennung und Resonanz zu erfahren, die wir einst so sehr gebraucht haben. Sie drückt sich in dem Beharren aus, den anderen von der eigenen Sichtweise zu überzeugen - notfalls mit Gewalt. Sie führt zu unermüdlicher Anstrengung, die ins Burnout mündet. Sie erschafft "starke" Männer und Frauen, die alleine klarkommen wollen und sich dabei selbst vergessen. Die Liste ließe sich endlos fortführen, der Schmerz darunter ist derselbe. Die Not unseres inneren Kindes, in seinem Dasein angenommen und bestärkt zu werden.

Haben wir das erkannt, können wir uns als heute erwachsene Person liebevoll um unser inneres Kind kümmern und ihm zu verstehen geben, dass heute nicht damals ist. Heute wird es gesehen. Heute erfährt es alles, was es braucht. Die Lücke kann sich nach und nach auffüllen. Bis wir unsere Flügel ganz ausgebreitet haben und abheben.


bottom of page